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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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zum speculativen Denken, das die Wahrheit um ihrer selbst willen verfolgt,
der leidenschaftlichen, witzigen, aggressiven Kritik der Söhne Voltaires und
ihrem Begehren alles umzugestalten gegenübergestellt. "Wir lieben es mehr,"
heißt es hier, "den gordischen Knoten zu zerhauen als zu lösen, wir über¬
schreiten oft die Grenzen des Möglichen und treiben angewandte Ideologie,
denn es gibt eine Utopie der Thatsachen wie der Ideen." -- Wenn für die
ernstere französische Kritik mit Recht der Vorzug des guten Geschmackes bean¬
sprucht wird, so wird den Jüngern Wolffs und Niebuhrs vor allem Tiefe
zuerkannt, von den beiden Seiten der Methode haben die Franzosen vorzüg¬
lich das Vermögen der Analyse, die Deutschen das der Synthese. Gegen
alles dies wird wenig einzuwenden sein, aber was die Sprachen, die nun
geprüft werden, betrifft, so müssen wir doch einen Vorbehalt machen. Wenn
wir bereitwillig der französischen Rede große Klarheit für die Auseinander¬
setzung und Gefügigkeit für die Unterhaltung zugestehen, so können wir nicht
anerkennen, daß der deutschen Klarheit und Genauigkeit des Ausdrucks fehle
und daß sie "um den Gedanken in dichten, unbestimmten Falten fließe." (Nur
Goethe wird hier ausgenommen). Friedrich von Gagern zwar hat witzig be¬
merkt, die deutsche Sprache eigne sich wegen ihrer "dürfte, könnte, möchte,
würde" für die Diplomatie, die nicht sage was sie wolle, aber wenn man
zu wissen begehrt, ob die deutsche Sprache präcis sein könne, so genügt doch
wol eine Seite von Lessing zu lesen. Daß so manche deutsche Schriftsteller
durch den Reichthum ihrer Sprache (welchen die Revue gebührend anerkennt)
in Verlegenheit gesetzt werden und ihre Gedanken nicht scharf begrenzen,, be¬
weist nichts gegen die Sprache, sie ist nicht nur reicher, sondern auch beweg¬
licher als die französische, und darin, daß sie den Stempel jeder Individua¬
lität leichter annimmt, sehen wir einen ihrer Vorzüge, ihr wird nicht durch den
Code eines Dictionnaire de l'Academie, sondern nur durch Gewohnheitsrecht
das Gesetz gegeben. Wir glauben, daß, wenn die Verfasser dies berücksichtigt
Hütten, ihre sonst so schöne Entwicklung der Verschiedenheit der Literatur beider
Länder noch zutreffender sein würde. Sehr richtig wird hervorgehoben, wie
sonst der Glanz der schönen Wissenschaften nur eine Zierde der politischen
Größe eines Volkes, gewesen, wie die deutsche Literatur sich aber zu ihrer
größten Blüte entfaltet, während die realen Zustünde ganz daniederlagen.
Offen wird zugestanden, daß keine Poesie so künstlich sei, als die franzöfisch-
classiiche. die großen Dichter unter Ludwig XIV. seien vielmehr Künstler als
Dichter, die Form absorbire sie, das Herkömmliche beherrsche sie, das Zeit¬
alter habe keinen Lyriker gehabt. Der Versasser geht dann zu der neuen
deutschen Philosophie über, deren synthetische Richtung in Hegel ihren Gipfel¬
punkt erreicht habe, nach ihm sei der deutsche Geist von der Höhe der Spe¬
kulation herabgestiegen, und sei wieder mit dem realen Leben in Verbindung


zum speculativen Denken, das die Wahrheit um ihrer selbst willen verfolgt,
der leidenschaftlichen, witzigen, aggressiven Kritik der Söhne Voltaires und
ihrem Begehren alles umzugestalten gegenübergestellt. „Wir lieben es mehr,"
heißt es hier, „den gordischen Knoten zu zerhauen als zu lösen, wir über¬
schreiten oft die Grenzen des Möglichen und treiben angewandte Ideologie,
denn es gibt eine Utopie der Thatsachen wie der Ideen." — Wenn für die
ernstere französische Kritik mit Recht der Vorzug des guten Geschmackes bean¬
sprucht wird, so wird den Jüngern Wolffs und Niebuhrs vor allem Tiefe
zuerkannt, von den beiden Seiten der Methode haben die Franzosen vorzüg¬
lich das Vermögen der Analyse, die Deutschen das der Synthese. Gegen
alles dies wird wenig einzuwenden sein, aber was die Sprachen, die nun
geprüft werden, betrifft, so müssen wir doch einen Vorbehalt machen. Wenn
wir bereitwillig der französischen Rede große Klarheit für die Auseinander¬
setzung und Gefügigkeit für die Unterhaltung zugestehen, so können wir nicht
anerkennen, daß der deutschen Klarheit und Genauigkeit des Ausdrucks fehle
und daß sie „um den Gedanken in dichten, unbestimmten Falten fließe." (Nur
Goethe wird hier ausgenommen). Friedrich von Gagern zwar hat witzig be¬
merkt, die deutsche Sprache eigne sich wegen ihrer „dürfte, könnte, möchte,
würde" für die Diplomatie, die nicht sage was sie wolle, aber wenn man
zu wissen begehrt, ob die deutsche Sprache präcis sein könne, so genügt doch
wol eine Seite von Lessing zu lesen. Daß so manche deutsche Schriftsteller
durch den Reichthum ihrer Sprache (welchen die Revue gebührend anerkennt)
in Verlegenheit gesetzt werden und ihre Gedanken nicht scharf begrenzen,, be¬
weist nichts gegen die Sprache, sie ist nicht nur reicher, sondern auch beweg¬
licher als die französische, und darin, daß sie den Stempel jeder Individua¬
lität leichter annimmt, sehen wir einen ihrer Vorzüge, ihr wird nicht durch den
Code eines Dictionnaire de l'Academie, sondern nur durch Gewohnheitsrecht
das Gesetz gegeben. Wir glauben, daß, wenn die Verfasser dies berücksichtigt
Hütten, ihre sonst so schöne Entwicklung der Verschiedenheit der Literatur beider
Länder noch zutreffender sein würde. Sehr richtig wird hervorgehoben, wie
sonst der Glanz der schönen Wissenschaften nur eine Zierde der politischen
Größe eines Volkes, gewesen, wie die deutsche Literatur sich aber zu ihrer
größten Blüte entfaltet, während die realen Zustünde ganz daniederlagen.
Offen wird zugestanden, daß keine Poesie so künstlich sei, als die franzöfisch-
classiiche. die großen Dichter unter Ludwig XIV. seien vielmehr Künstler als
Dichter, die Form absorbire sie, das Herkömmliche beherrsche sie, das Zeit¬
alter habe keinen Lyriker gehabt. Der Versasser geht dann zu der neuen
deutschen Philosophie über, deren synthetische Richtung in Hegel ihren Gipfel¬
punkt erreicht habe, nach ihm sei der deutsche Geist von der Höhe der Spe¬
kulation herabgestiegen, und sei wieder mit dem realen Leben in Verbindung


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[0517] zum speculativen Denken, das die Wahrheit um ihrer selbst willen verfolgt, der leidenschaftlichen, witzigen, aggressiven Kritik der Söhne Voltaires und ihrem Begehren alles umzugestalten gegenübergestellt. „Wir lieben es mehr," heißt es hier, „den gordischen Knoten zu zerhauen als zu lösen, wir über¬ schreiten oft die Grenzen des Möglichen und treiben angewandte Ideologie, denn es gibt eine Utopie der Thatsachen wie der Ideen." — Wenn für die ernstere französische Kritik mit Recht der Vorzug des guten Geschmackes bean¬ sprucht wird, so wird den Jüngern Wolffs und Niebuhrs vor allem Tiefe zuerkannt, von den beiden Seiten der Methode haben die Franzosen vorzüg¬ lich das Vermögen der Analyse, die Deutschen das der Synthese. Gegen alles dies wird wenig einzuwenden sein, aber was die Sprachen, die nun geprüft werden, betrifft, so müssen wir doch einen Vorbehalt machen. Wenn wir bereitwillig der französischen Rede große Klarheit für die Auseinander¬ setzung und Gefügigkeit für die Unterhaltung zugestehen, so können wir nicht anerkennen, daß der deutschen Klarheit und Genauigkeit des Ausdrucks fehle und daß sie „um den Gedanken in dichten, unbestimmten Falten fließe." (Nur Goethe wird hier ausgenommen). Friedrich von Gagern zwar hat witzig be¬ merkt, die deutsche Sprache eigne sich wegen ihrer „dürfte, könnte, möchte, würde" für die Diplomatie, die nicht sage was sie wolle, aber wenn man zu wissen begehrt, ob die deutsche Sprache präcis sein könne, so genügt doch wol eine Seite von Lessing zu lesen. Daß so manche deutsche Schriftsteller durch den Reichthum ihrer Sprache (welchen die Revue gebührend anerkennt) in Verlegenheit gesetzt werden und ihre Gedanken nicht scharf begrenzen,, be¬ weist nichts gegen die Sprache, sie ist nicht nur reicher, sondern auch beweg¬ licher als die französische, und darin, daß sie den Stempel jeder Individua¬ lität leichter annimmt, sehen wir einen ihrer Vorzüge, ihr wird nicht durch den Code eines Dictionnaire de l'Academie, sondern nur durch Gewohnheitsrecht das Gesetz gegeben. Wir glauben, daß, wenn die Verfasser dies berücksichtigt Hütten, ihre sonst so schöne Entwicklung der Verschiedenheit der Literatur beider Länder noch zutreffender sein würde. Sehr richtig wird hervorgehoben, wie sonst der Glanz der schönen Wissenschaften nur eine Zierde der politischen Größe eines Volkes, gewesen, wie die deutsche Literatur sich aber zu ihrer größten Blüte entfaltet, während die realen Zustünde ganz daniederlagen. Offen wird zugestanden, daß keine Poesie so künstlich sei, als die franzöfisch- classiiche. die großen Dichter unter Ludwig XIV. seien vielmehr Künstler als Dichter, die Form absorbire sie, das Herkömmliche beherrsche sie, das Zeit¬ alter habe keinen Lyriker gehabt. Der Versasser geht dann zu der neuen deutschen Philosophie über, deren synthetische Richtung in Hegel ihren Gipfel¬ punkt erreicht habe, nach ihm sei der deutsche Geist von der Höhe der Spe¬ kulation herabgestiegen, und sei wieder mit dem realen Leben in Verbindung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/517>, abgerufen am 22.12.2024.