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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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wirken, so muß man detailliren. Will man jenes Idealismus und dieses Realis¬
mus nennen, so ist nichts dagegen zu sagen, nur wird das eine vom andern
nicht widerlegt, so wenig als die niederländische Schule von der italienischen
Schule widerlegt wird.

Aber dem Dichter wie den meisten Aesthetikern, die sich über den Idea-
lismuK vernehmen lassen, scheint etwas Anderes vorzuschweben. Sie verstehn
darunter dasjenige, was auf uns den Eindruck des Fremdartigen macht im
Gegensatz zu den Erscheinungen des täglichen Lebens. Gegen.diesen Unter¬
schied müssen wir protestiren, wenn er zugleich einen Unterschied des Werths
ausdrucken soll. Wenn man den Ausbruch des Vesuvs schildert, so ist das
freilich ein höherer Gegenstand der Landschaftsmalerei als wenn man eine
märkische Ebene Porträtiren wollte, aber auch die letztere läßt sich poetisch
darstellen, wie Wilibald Alexis gezeigt hat. Es kommt auch hier darauf an,
das Wahre und Wesentliche herauszuerkennen und es im Geist wieder zu
gebären. Ein Trinklied ist deshalb nicht poetischer/weil es in der fremdar¬
tigen Form des Gascls und mit unaussprechlichen arabischen Namen ausstaf-
firt ist. Der Poet hat die Aufgabe, nach Goethes wunderbar schönem Aus¬
druck, den umwölkten Blick zu öffnen und ihm die tausend Quellen neben dem
Dürstenden in der Wüste zu zeigen.

Was wir hier gesagt haben möge zugleich die Besprechung mancher uns
vorliegenden Liedersummlungen ersetzen.

In den Gedichten von F. A. Maertcr (zweite-Ausgabe, zwei Bände,
Berlin, Decker) haben wir mit großem Vergnügen die Sorgfalt und den
strengen Geschmack in der Form bemerkt, der aus einem einsichtsvollen und
eifrigem Studium des Alterthums hervorgeht. In den Gedichten von Dief-
fenbach (Berlin, Wohlgemuth) hören wir manche wirklich ans dem Herzen
hervorquellende Töne. Anspruchsvoller tritt eine andere Sammlung aus:
Mythvtcrpe, ein Mythen-, Sagen- und Legcndenbuch. Dichtungen von
Amara George. Georg Friedrich Danaer und Alexander Kauf¬
mann (Leipzig, Brockhaus). Die Sammlung soll gewissermaßen einen Cyklus
sämmtlicher Mythologien enthalten, griechisch, persisch, muhanunedanisch, rab-
binisch, christlich, nordisch u. s. w. Im Wesentlichen ist es dieselbe Ausgabe,
die sich Herder in den Stimmen der Völker gesetzt hat. nur mit dem Unter¬
schied, daß nicht das allgemein Menschliche, sondern das Fremde, Auffallende
hervorgehoben wird,' und daß die Form eine sehr künstliche ist. Neben man¬
chen spielenden und gezierten Erfindungen begegnen uns einige von ungewöhn¬
lich poetischer Kraft, namentlich in den umfassenderen Gemälden von Kauf-
mann. Ueberhaupt halten wir es im Ganzen mehr mit der alten Weise der
Dichtung, die nicht blos andeutet, sondern wirklich ausführt. Es ist grade in
Deutschland in der kleinen epigrammatischen Licderform viel Bedeutendes geleistet,


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wirken, so muß man detailliren. Will man jenes Idealismus und dieses Realis¬
mus nennen, so ist nichts dagegen zu sagen, nur wird das eine vom andern
nicht widerlegt, so wenig als die niederländische Schule von der italienischen
Schule widerlegt wird.

Aber dem Dichter wie den meisten Aesthetikern, die sich über den Idea-
lismuK vernehmen lassen, scheint etwas Anderes vorzuschweben. Sie verstehn
darunter dasjenige, was auf uns den Eindruck des Fremdartigen macht im
Gegensatz zu den Erscheinungen des täglichen Lebens. Gegen.diesen Unter¬
schied müssen wir protestiren, wenn er zugleich einen Unterschied des Werths
ausdrucken soll. Wenn man den Ausbruch des Vesuvs schildert, so ist das
freilich ein höherer Gegenstand der Landschaftsmalerei als wenn man eine
märkische Ebene Porträtiren wollte, aber auch die letztere läßt sich poetisch
darstellen, wie Wilibald Alexis gezeigt hat. Es kommt auch hier darauf an,
das Wahre und Wesentliche herauszuerkennen und es im Geist wieder zu
gebären. Ein Trinklied ist deshalb nicht poetischer/weil es in der fremdar¬
tigen Form des Gascls und mit unaussprechlichen arabischen Namen ausstaf-
firt ist. Der Poet hat die Aufgabe, nach Goethes wunderbar schönem Aus¬
druck, den umwölkten Blick zu öffnen und ihm die tausend Quellen neben dem
Dürstenden in der Wüste zu zeigen.

Was wir hier gesagt haben möge zugleich die Besprechung mancher uns
vorliegenden Liedersummlungen ersetzen.

In den Gedichten von F. A. Maertcr (zweite-Ausgabe, zwei Bände,
Berlin, Decker) haben wir mit großem Vergnügen die Sorgfalt und den
strengen Geschmack in der Form bemerkt, der aus einem einsichtsvollen und
eifrigem Studium des Alterthums hervorgeht. In den Gedichten von Dief-
fenbach (Berlin, Wohlgemuth) hören wir manche wirklich ans dem Herzen
hervorquellende Töne. Anspruchsvoller tritt eine andere Sammlung aus:
Mythvtcrpe, ein Mythen-, Sagen- und Legcndenbuch. Dichtungen von
Amara George. Georg Friedrich Danaer und Alexander Kauf¬
mann (Leipzig, Brockhaus). Die Sammlung soll gewissermaßen einen Cyklus
sämmtlicher Mythologien enthalten, griechisch, persisch, muhanunedanisch, rab-
binisch, christlich, nordisch u. s. w. Im Wesentlichen ist es dieselbe Ausgabe,
die sich Herder in den Stimmen der Völker gesetzt hat. nur mit dem Unter¬
schied, daß nicht das allgemein Menschliche, sondern das Fremde, Auffallende
hervorgehoben wird,' und daß die Form eine sehr künstliche ist. Neben man¬
chen spielenden und gezierten Erfindungen begegnen uns einige von ungewöhn¬
lich poetischer Kraft, namentlich in den umfassenderen Gemälden von Kauf-
mann. Ueberhaupt halten wir es im Ganzen mehr mit der alten Weise der
Dichtung, die nicht blos andeutet, sondern wirklich ausführt. Es ist grade in
Deutschland in der kleinen epigrammatischen Licderform viel Bedeutendes geleistet,


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[0483] wirken, so muß man detailliren. Will man jenes Idealismus und dieses Realis¬ mus nennen, so ist nichts dagegen zu sagen, nur wird das eine vom andern nicht widerlegt, so wenig als die niederländische Schule von der italienischen Schule widerlegt wird. Aber dem Dichter wie den meisten Aesthetikern, die sich über den Idea- lismuK vernehmen lassen, scheint etwas Anderes vorzuschweben. Sie verstehn darunter dasjenige, was auf uns den Eindruck des Fremdartigen macht im Gegensatz zu den Erscheinungen des täglichen Lebens. Gegen.diesen Unter¬ schied müssen wir protestiren, wenn er zugleich einen Unterschied des Werths ausdrucken soll. Wenn man den Ausbruch des Vesuvs schildert, so ist das freilich ein höherer Gegenstand der Landschaftsmalerei als wenn man eine märkische Ebene Porträtiren wollte, aber auch die letztere läßt sich poetisch darstellen, wie Wilibald Alexis gezeigt hat. Es kommt auch hier darauf an, das Wahre und Wesentliche herauszuerkennen und es im Geist wieder zu gebären. Ein Trinklied ist deshalb nicht poetischer/weil es in der fremdar¬ tigen Form des Gascls und mit unaussprechlichen arabischen Namen ausstaf- firt ist. Der Poet hat die Aufgabe, nach Goethes wunderbar schönem Aus¬ druck, den umwölkten Blick zu öffnen und ihm die tausend Quellen neben dem Dürstenden in der Wüste zu zeigen. Was wir hier gesagt haben möge zugleich die Besprechung mancher uns vorliegenden Liedersummlungen ersetzen. In den Gedichten von F. A. Maertcr (zweite-Ausgabe, zwei Bände, Berlin, Decker) haben wir mit großem Vergnügen die Sorgfalt und den strengen Geschmack in der Form bemerkt, der aus einem einsichtsvollen und eifrigem Studium des Alterthums hervorgeht. In den Gedichten von Dief- fenbach (Berlin, Wohlgemuth) hören wir manche wirklich ans dem Herzen hervorquellende Töne. Anspruchsvoller tritt eine andere Sammlung aus: Mythvtcrpe, ein Mythen-, Sagen- und Legcndenbuch. Dichtungen von Amara George. Georg Friedrich Danaer und Alexander Kauf¬ mann (Leipzig, Brockhaus). Die Sammlung soll gewissermaßen einen Cyklus sämmtlicher Mythologien enthalten, griechisch, persisch, muhanunedanisch, rab- binisch, christlich, nordisch u. s. w. Im Wesentlichen ist es dieselbe Ausgabe, die sich Herder in den Stimmen der Völker gesetzt hat. nur mit dem Unter¬ schied, daß nicht das allgemein Menschliche, sondern das Fremde, Auffallende hervorgehoben wird,' und daß die Form eine sehr künstliche ist. Neben man¬ chen spielenden und gezierten Erfindungen begegnen uns einige von ungewöhn¬ lich poetischer Kraft, namentlich in den umfassenderen Gemälden von Kauf- mann. Ueberhaupt halten wir es im Ganzen mehr mit der alten Weise der Dichtung, die nicht blos andeutet, sondern wirklich ausführt. Es ist grade in Deutschland in der kleinen epigrammatischen Licderform viel Bedeutendes geleistet, 60*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/483>, abgerufen am 27.07.2024.