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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Endlich freuen wir uns, daß der Verfasser seinen Gegenstand so gut dar¬
zustellen versteht. Kunstwerke zu beschreiben ist immer nicht leicht; steuert man
auch glücklich zwischen der Scylla tönender, aber leerer Phrasen und der Cha-
rybdis einer trocknen Specification von Details hindurch, so ist man doch
noch lange nicht sicher, den Eindruck, den man selbst empfangen hat, bei dem
Leser zu erwecken. Dazu ist erforderlich, das; der Ausdruck voll Wärme.
Schwung lind Kraft der Anschauung sei. Vor hundert Jahren gehörte das
Genie Winckelmanns dazu, diese Eigenschaften der damals noch steifen und un¬
gelenken Sprache mitzutheilen. Schilderungen, wie er sie vom Laokoon, vom
Torso und vom Apoll von Velvedere gemacht hat, konnte damals, (nicht blos
was Tiefe der Auffassung, sondern anch was Kraft und Schönheit des Aus¬
drucks betrifft) schwerlich ein andrer machen; und doch kostete ihm eine davon
drei Monate. Es ist wol nicht so bekannt als es zu sein verdiente, daß Lessing
den zweiten Theil seines Laoton französisch herauszugeben beabsichtigte. Sein
literarischer Nachlaß (Land 2 der lachmannschen Ausgabe) enthält eine französische
Bearbeitung der Vorrede zu", ersten Theil. Am Schluß sagt er: ,,^e vais
10 rvlligvr ac iiouvoau et vu Sounor I" suite v" K-iMAus, eetts langue
in'neant 6miL "es luativre" tout g.u meins aus-zi kamilivrv Mo I'audi'v. I^a
langue allemamle, <in0i<iue eile ne lui eecke en rieu, etant mauiee eomme
11 kaut, ost pourtant oaeore a körner, ü. er6er anno xeur I>lu-
sieur" gonros alö eoivpositiou, aoud eelniei u'estpas1v moiuäre. Nais
a quoi bon so äounor coelo peiuo, an riiz<iuo meme as o'^ rvussir pas an gout
ac "LL eowpatl'lodo"? Voila 1a lau^no t'uni^also ävM toute oreöv, toute
tormee: riK<iuons äone le xarmet." So schwer fand es der Manu, dessen
deutsche Prosa nie übertroffen werden wird, über ästhetische Gegenstände deutsch
zu schreiben! Dank ihm und den andern Heroen unsrer großen Literaturperiode
ist es uns Epigonen so leicht, daß es jeder Gebildete kann, der seinen Gegen¬
stand durchdrungen und die aufs reichste entwickelte Sprache handhaben gelernt
bat. Die Zahl derjenigen, die gegenwärtig über Kunst gut schreiben, ist sehr
groß, und der Verfasser gehört zu denen, die am besten schreiben.

Wie billig nehmen in einer Darstellung der gegenwärtigen Kunstzustände
(nur eine "Geschichte" möchten wir sie nicht nennen, obwol der Verfasser diesen
Titel in der Einleitung zu vertheidige" sucht) Sculptur, Malerei und deren
Schwesterkünste bei weitem den meisten Raum ein, denn von unsrer Architektur
ist nicht viel Positives zu sagen. Der Verfasser "bekennt sich zu realistischen
Grundsätzen" was, wie wir denken, jeder thut, der das geistige Leben der
Gegenwart begreift. EineKuust. die den Realismus durchaus negiren wollte
(so weit dies bei unsrer gegenwärtigen Cultur überhaupt möglich ist), würde
wie ein erotisches Gewächs absterben, dem ein fremder Himmel und ein frem¬
der Boden keine nährenden Stoffe zuführen kann. Damit ist natürlich dem


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Endlich freuen wir uns, daß der Verfasser seinen Gegenstand so gut dar¬
zustellen versteht. Kunstwerke zu beschreiben ist immer nicht leicht; steuert man
auch glücklich zwischen der Scylla tönender, aber leerer Phrasen und der Cha-
rybdis einer trocknen Specification von Details hindurch, so ist man doch
noch lange nicht sicher, den Eindruck, den man selbst empfangen hat, bei dem
Leser zu erwecken. Dazu ist erforderlich, das; der Ausdruck voll Wärme.
Schwung lind Kraft der Anschauung sei. Vor hundert Jahren gehörte das
Genie Winckelmanns dazu, diese Eigenschaften der damals noch steifen und un¬
gelenken Sprache mitzutheilen. Schilderungen, wie er sie vom Laokoon, vom
Torso und vom Apoll von Velvedere gemacht hat, konnte damals, (nicht blos
was Tiefe der Auffassung, sondern anch was Kraft und Schönheit des Aus¬
drucks betrifft) schwerlich ein andrer machen; und doch kostete ihm eine davon
drei Monate. Es ist wol nicht so bekannt als es zu sein verdiente, daß Lessing
den zweiten Theil seines Laoton französisch herauszugeben beabsichtigte. Sein
literarischer Nachlaß (Land 2 der lachmannschen Ausgabe) enthält eine französische
Bearbeitung der Vorrede zu», ersten Theil. Am Schluß sagt er: ,,^e vais
10 rvlligvr ac iiouvoau et vu Sounor I» suite v» K-iMAus, eetts langue
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11 kaut, ost pourtant oaeore a körner, ü. er6er anno xeur I>lu-
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tormee: riK<iuons äone le xarmet." So schwer fand es der Manu, dessen
deutsche Prosa nie übertroffen werden wird, über ästhetische Gegenstände deutsch
zu schreiben! Dank ihm und den andern Heroen unsrer großen Literaturperiode
ist es uns Epigonen so leicht, daß es jeder Gebildete kann, der seinen Gegen¬
stand durchdrungen und die aufs reichste entwickelte Sprache handhaben gelernt
bat. Die Zahl derjenigen, die gegenwärtig über Kunst gut schreiben, ist sehr
groß, und der Verfasser gehört zu denen, die am besten schreiben.

Wie billig nehmen in einer Darstellung der gegenwärtigen Kunstzustände
(nur eine „Geschichte" möchten wir sie nicht nennen, obwol der Verfasser diesen
Titel in der Einleitung zu vertheidige» sucht) Sculptur, Malerei und deren
Schwesterkünste bei weitem den meisten Raum ein, denn von unsrer Architektur
ist nicht viel Positives zu sagen. Der Verfasser „bekennt sich zu realistischen
Grundsätzen" was, wie wir denken, jeder thut, der das geistige Leben der
Gegenwart begreift. EineKuust. die den Realismus durchaus negiren wollte
(so weit dies bei unsrer gegenwärtigen Cultur überhaupt möglich ist), würde
wie ein erotisches Gewächs absterben, dem ein fremder Himmel und ein frem¬
der Boden keine nährenden Stoffe zuführen kann. Damit ist natürlich dem


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[0475] Endlich freuen wir uns, daß der Verfasser seinen Gegenstand so gut dar¬ zustellen versteht. Kunstwerke zu beschreiben ist immer nicht leicht; steuert man auch glücklich zwischen der Scylla tönender, aber leerer Phrasen und der Cha- rybdis einer trocknen Specification von Details hindurch, so ist man doch noch lange nicht sicher, den Eindruck, den man selbst empfangen hat, bei dem Leser zu erwecken. Dazu ist erforderlich, das; der Ausdruck voll Wärme. Schwung lind Kraft der Anschauung sei. Vor hundert Jahren gehörte das Genie Winckelmanns dazu, diese Eigenschaften der damals noch steifen und un¬ gelenken Sprache mitzutheilen. Schilderungen, wie er sie vom Laokoon, vom Torso und vom Apoll von Velvedere gemacht hat, konnte damals, (nicht blos was Tiefe der Auffassung, sondern anch was Kraft und Schönheit des Aus¬ drucks betrifft) schwerlich ein andrer machen; und doch kostete ihm eine davon drei Monate. Es ist wol nicht so bekannt als es zu sein verdiente, daß Lessing den zweiten Theil seines Laoton französisch herauszugeben beabsichtigte. Sein literarischer Nachlaß (Land 2 der lachmannschen Ausgabe) enthält eine französische Bearbeitung der Vorrede zu», ersten Theil. Am Schluß sagt er: ,,^e vais 10 rvlligvr ac iiouvoau et vu Sounor I» suite v» K-iMAus, eetts langue in'neant 6miL »es luativre« tout g.u meins aus-zi kamilivrv Mo I'audi'v. I^a langue allemamle, <in0i<iue eile ne lui eecke en rieu, etant mauiee eomme 11 kaut, ost pourtant oaeore a körner, ü. er6er anno xeur I>lu- sieur» gonros alö eoivpositiou, aoud eelniei u'estpas1v moiuäre. Nais a quoi bon so äounor coelo peiuo, an riiz<iuo meme as o'^ rvussir pas an gout ac »LL eowpatl'lodo»? Voila 1a lau^no t'uni^also ävM toute oreöv, toute tormee: riK<iuons äone le xarmet." So schwer fand es der Manu, dessen deutsche Prosa nie übertroffen werden wird, über ästhetische Gegenstände deutsch zu schreiben! Dank ihm und den andern Heroen unsrer großen Literaturperiode ist es uns Epigonen so leicht, daß es jeder Gebildete kann, der seinen Gegen¬ stand durchdrungen und die aufs reichste entwickelte Sprache handhaben gelernt bat. Die Zahl derjenigen, die gegenwärtig über Kunst gut schreiben, ist sehr groß, und der Verfasser gehört zu denen, die am besten schreiben. Wie billig nehmen in einer Darstellung der gegenwärtigen Kunstzustände (nur eine „Geschichte" möchten wir sie nicht nennen, obwol der Verfasser diesen Titel in der Einleitung zu vertheidige» sucht) Sculptur, Malerei und deren Schwesterkünste bei weitem den meisten Raum ein, denn von unsrer Architektur ist nicht viel Positives zu sagen. Der Verfasser „bekennt sich zu realistischen Grundsätzen" was, wie wir denken, jeder thut, der das geistige Leben der Gegenwart begreift. EineKuust. die den Realismus durchaus negiren wollte (so weit dies bei unsrer gegenwärtigen Cultur überhaupt möglich ist), würde wie ein erotisches Gewächs absterben, dem ein fremder Himmel und ein frem¬ der Boden keine nährenden Stoffe zuführen kann. Damit ist natürlich dem 59"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/475>, abgerufen am 27.07.2024.