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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Geschäfts von gar nicht so großer Bedeutung sind; die Sicherheit liegt viel¬
mehr nur im Geschäftsbetrieb selber d. h. in der richtige" Vertheilung der
zu übernehmenden Gefahren.

Hier aber beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten. Wie lassen sich
Gefahren vertheilen und wie lassen sich bestimmte Gefahren an gewissen Pro¬
centsätzen abmessen? Wir kommen hier auf das Gebiet der Wahrscheinlichkeiten
gewisser Vorgänge im menschlichen Leben und in der menschlichen Gesellschaft,
an die Verkettung von Zwang und Willensfreiheit im Menschen selbst. So
viel haben jedenfalls neuere Untersuchungen herausgestellt, das; sogar die
freiesten und individuellsten Handlungen im Durchschnitt ihres Vorkommens
einer auffallenden Gleichmäßigkeit unterliegen. Quetclet*) weist nach, wie sich
aus einer durch 20 Jahre geführten Prüfung der musterhaft eingerichteten
belgischen Civilstandsbücher ergebe, daß im Laufe dieser Zeit "die Zahl der
Heirathen, wenn die Zunahme der Bevölkerung in Anrechnung gebracht wird,
jährlich dieselbe geblieben ist, sie kommt in den Städten der der Todesfälle
nahezu gleich und doch überlegt man sich nicht das Sterben, wie man sich das
Heirathen überlegt. Betrachten wir die Heirathen speciell, so werden wir finden,
daß von Jahr zu Jahr nicht allein die Summe der Heirathen nahezu sich
gleich geblieben ist in den Städten, wie auf dem Lande, sondern daß sich auch
dies constante Verhältniß an den Ziffern beobachten läßt, welche die Anzahl
der Heirathen zwischen Junggesellen und Mädchen, zwischen Witwern und
Mädchen, wie zwischen Witwern und Witwen ausdrücken. . . Im thatsäch¬
lichen Verlauf der Dinge geht alles so zu. als ob von einem Ende des König¬
reichs zum andern das Volk sich jährlich verständigte, dieselbe Anzahl von
Heirathen abzuschließen und solche in gleichheitlicher Weise unter die ver¬
schiedenen Provinzen, unter Stadt und Land, unter die Junggesellen, Mädchen,
Witwen und Witwer zu vertheilen. . . Noch mehr, es konnte scheinen, als
ob in Wahrheit gesetzliche Anordnungen beständen, die nur eine bestimmte
Anzahl von Ehebündnissen für die verschiedenen Altersstufen bewilligt, eine
solche Regelmäßigkeit herrscht auch in dieser Beziehung." Gewiß muß eine
solche Regelmäßigkeit bei Handlungen, die wie das Heirathen so sehr Act des
freien Willens sind, außerordentlich überraschen und läßt auf ähnliche Erschei¬
nungen bei andern Vorgängen schließen. Quetelet will sie bei "Selbstmords¬
fällen beobachtet haben, bei den Verstümmelungen, die vorgenommen werden,
um sich dem Militärdienste zu entziehen, bei den Summen, die sonst in den
pariser Spielhäusern gesetzt worden sind, sogar bei den von der PostVer¬
waltung angezeigten Nachlässigkeiten hinsichtlich nicht verschlossener, mangelhaft



") Ad. Quetelet: Zur Naturgeschichte der Gesellschaft. Deutsch u"d mit Literaturnachweise"
hcmusg. von Karl Adler 185L.
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Geschäfts von gar nicht so großer Bedeutung sind; die Sicherheit liegt viel¬
mehr nur im Geschäftsbetrieb selber d. h. in der richtige» Vertheilung der
zu übernehmenden Gefahren.

Hier aber beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten. Wie lassen sich
Gefahren vertheilen und wie lassen sich bestimmte Gefahren an gewissen Pro¬
centsätzen abmessen? Wir kommen hier auf das Gebiet der Wahrscheinlichkeiten
gewisser Vorgänge im menschlichen Leben und in der menschlichen Gesellschaft,
an die Verkettung von Zwang und Willensfreiheit im Menschen selbst. So
viel haben jedenfalls neuere Untersuchungen herausgestellt, das; sogar die
freiesten und individuellsten Handlungen im Durchschnitt ihres Vorkommens
einer auffallenden Gleichmäßigkeit unterliegen. Quetclet*) weist nach, wie sich
aus einer durch 20 Jahre geführten Prüfung der musterhaft eingerichteten
belgischen Civilstandsbücher ergebe, daß im Laufe dieser Zeit „die Zahl der
Heirathen, wenn die Zunahme der Bevölkerung in Anrechnung gebracht wird,
jährlich dieselbe geblieben ist, sie kommt in den Städten der der Todesfälle
nahezu gleich und doch überlegt man sich nicht das Sterben, wie man sich das
Heirathen überlegt. Betrachten wir die Heirathen speciell, so werden wir finden,
daß von Jahr zu Jahr nicht allein die Summe der Heirathen nahezu sich
gleich geblieben ist in den Städten, wie auf dem Lande, sondern daß sich auch
dies constante Verhältniß an den Ziffern beobachten läßt, welche die Anzahl
der Heirathen zwischen Junggesellen und Mädchen, zwischen Witwern und
Mädchen, wie zwischen Witwern und Witwen ausdrücken. . . Im thatsäch¬
lichen Verlauf der Dinge geht alles so zu. als ob von einem Ende des König¬
reichs zum andern das Volk sich jährlich verständigte, dieselbe Anzahl von
Heirathen abzuschließen und solche in gleichheitlicher Weise unter die ver¬
schiedenen Provinzen, unter Stadt und Land, unter die Junggesellen, Mädchen,
Witwen und Witwer zu vertheilen. . . Noch mehr, es konnte scheinen, als
ob in Wahrheit gesetzliche Anordnungen beständen, die nur eine bestimmte
Anzahl von Ehebündnissen für die verschiedenen Altersstufen bewilligt, eine
solche Regelmäßigkeit herrscht auch in dieser Beziehung." Gewiß muß eine
solche Regelmäßigkeit bei Handlungen, die wie das Heirathen so sehr Act des
freien Willens sind, außerordentlich überraschen und läßt auf ähnliche Erschei¬
nungen bei andern Vorgängen schließen. Quetelet will sie bei „Selbstmords¬
fällen beobachtet haben, bei den Verstümmelungen, die vorgenommen werden,
um sich dem Militärdienste zu entziehen, bei den Summen, die sonst in den
pariser Spielhäusern gesetzt worden sind, sogar bei den von der PostVer¬
waltung angezeigten Nachlässigkeiten hinsichtlich nicht verschlossener, mangelhaft



") Ad. Quetelet: Zur Naturgeschichte der Gesellschaft. Deutsch u»d mit Literaturnachweise»
hcmusg. von Karl Adler 185L.
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[0467] Geschäfts von gar nicht so großer Bedeutung sind; die Sicherheit liegt viel¬ mehr nur im Geschäftsbetrieb selber d. h. in der richtige» Vertheilung der zu übernehmenden Gefahren. Hier aber beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten. Wie lassen sich Gefahren vertheilen und wie lassen sich bestimmte Gefahren an gewissen Pro¬ centsätzen abmessen? Wir kommen hier auf das Gebiet der Wahrscheinlichkeiten gewisser Vorgänge im menschlichen Leben und in der menschlichen Gesellschaft, an die Verkettung von Zwang und Willensfreiheit im Menschen selbst. So viel haben jedenfalls neuere Untersuchungen herausgestellt, das; sogar die freiesten und individuellsten Handlungen im Durchschnitt ihres Vorkommens einer auffallenden Gleichmäßigkeit unterliegen. Quetclet*) weist nach, wie sich aus einer durch 20 Jahre geführten Prüfung der musterhaft eingerichteten belgischen Civilstandsbücher ergebe, daß im Laufe dieser Zeit „die Zahl der Heirathen, wenn die Zunahme der Bevölkerung in Anrechnung gebracht wird, jährlich dieselbe geblieben ist, sie kommt in den Städten der der Todesfälle nahezu gleich und doch überlegt man sich nicht das Sterben, wie man sich das Heirathen überlegt. Betrachten wir die Heirathen speciell, so werden wir finden, daß von Jahr zu Jahr nicht allein die Summe der Heirathen nahezu sich gleich geblieben ist in den Städten, wie auf dem Lande, sondern daß sich auch dies constante Verhältniß an den Ziffern beobachten läßt, welche die Anzahl der Heirathen zwischen Junggesellen und Mädchen, zwischen Witwern und Mädchen, wie zwischen Witwern und Witwen ausdrücken. . . Im thatsäch¬ lichen Verlauf der Dinge geht alles so zu. als ob von einem Ende des König¬ reichs zum andern das Volk sich jährlich verständigte, dieselbe Anzahl von Heirathen abzuschließen und solche in gleichheitlicher Weise unter die ver¬ schiedenen Provinzen, unter Stadt und Land, unter die Junggesellen, Mädchen, Witwen und Witwer zu vertheilen. . . Noch mehr, es konnte scheinen, als ob in Wahrheit gesetzliche Anordnungen beständen, die nur eine bestimmte Anzahl von Ehebündnissen für die verschiedenen Altersstufen bewilligt, eine solche Regelmäßigkeit herrscht auch in dieser Beziehung." Gewiß muß eine solche Regelmäßigkeit bei Handlungen, die wie das Heirathen so sehr Act des freien Willens sind, außerordentlich überraschen und läßt auf ähnliche Erschei¬ nungen bei andern Vorgängen schließen. Quetelet will sie bei „Selbstmords¬ fällen beobachtet haben, bei den Verstümmelungen, die vorgenommen werden, um sich dem Militärdienste zu entziehen, bei den Summen, die sonst in den pariser Spielhäusern gesetzt worden sind, sogar bei den von der PostVer¬ waltung angezeigten Nachlässigkeiten hinsichtlich nicht verschlossener, mangelhaft ") Ad. Quetelet: Zur Naturgeschichte der Gesellschaft. Deutsch u»d mit Literaturnachweise» hcmusg. von Karl Adler 185L. 58 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/467>, abgerufen am 27.07.2024.