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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Staat sich nun längst herbeigelassen hat, die Bestimmung viel einfacherer Dinge,
wie den Preis der Lebensmittel und der Handarbeit, zu dessen richtiger Fest¬
setzung doch Allwissenheit gehören würde, dem Walten ihrer eignen Gesetze
zu überlassen, sollte man dies beim Zinsfuß gewiß erwarten. Und doch gehören
gesetzliche Vorschriften über seine Höhe zu den bis auf den heutigen Tag ver-
breitetsten Erscheinungen. Diejenigen, welche darin ein Mittel zur Beschränkung
des Materialismus unsrer Zeit sehen, wollen wir nicht weiter berücksichtigen.
Denn einmal ist es schon hervorgehoben worden, daß solche Tendenz sich des
Rechts nicht als Mittel bedienen kann, weil sie in ein andres Gebiet fällt;
andrerseits aber glauben wir, daß dieses Bestreben sich nicht blos gegen ein
Symptlfln anstatt gegen die Ursache richten, sondern einen noch auffälligeren
Fehler begehen würde, etwa wie ein Arzt, der bei der Behandlung eines
Pockenkranken seine ganze Kunst auf Fortschaffung einer einzigen Beule wen¬
den wollte. Viel triftigeren Einwänden haben wir da zu begegnen, wo die
Opposition gegen die Zinsfreiheit sich auf eine besondere Theorie des Capitals,
auf die Interessen des Grundbesitzes oder gar auf die bedrohte Harmonie des
gesammten Volkslebens gründet. Bevor wir aber hierauf eingehen, glauben
wir denjenigen unsrer Leser, welche außerhalb des preußischen Staats stehen
oder die Veranlassung der jetzigen Kammcrvcrhandiung aus den Augen ver¬
loren haben, eine kurze Andeutung über die preußische Zinsgesetzgebung und
ihre Suspension im November des vergangnen Jahres schuldig zu sein.

Der Zinsfuß ist in Preußen auf die Grenze von 5°/<,, in einzelnen Pro¬
vinzen auf 6°/o, zwischen Kaufleuten und Kaufleuten überhaupt auf 6°/g be¬
schränkt. Das Landrecht bestrafte Überschreitungen desselben, wenn sie sich
unter einem andern Geschäft versteckten, mit Verlust der gesammten Forde¬
rung an den Fiscus, sonst nur mit civilrechtlichen Folgen. Durch das Straf¬
gesetzbuch von 1851 wird die gewohnheitsmäßige oder unter einem andern
Geschäft versteckte Überschreitung des gesetzlichen Zinsfußes mit Gefängniß
von drei Monaten bis zu einem Jahr und zugleich mit Geldbuße vou 5" bis
1000 Thlr. so wie mit Untersagung der bürgerlichen Ehrenrechte ans Zeit be¬
straft. Troß dieser hohen und insamirend'en Strafen blühte der Wucher
seit 1851 mehr denn je, und von hundert Fällen gelangten vielleicht nur fünf zur
Anzeige, von diesen nur einer oder zwei der Art, daß das Gesetz wirklich
angewandt werden konnte.

Die einzige Folge war, daß anständige Leute, die von ihren Zinsen
lebten, sich mit 5°/<> begnügen mußten, während mit ihrem Geld vielleicht ein
Gewinn von 15 und 20°/<> gemacht wurde, und daß in allen Fällen, wo die
Gefahr eines Darlehns mit 5°/^ nicht hinreichend ausgeglichen wurde, Geld
nur von Blutsaugern zu erhalten war, die kein Bedenken trugen, es auf
eine Belanguug wegen Wuchers ankommen zu lassen. Daß diese Aufopferung


Staat sich nun längst herbeigelassen hat, die Bestimmung viel einfacherer Dinge,
wie den Preis der Lebensmittel und der Handarbeit, zu dessen richtiger Fest¬
setzung doch Allwissenheit gehören würde, dem Walten ihrer eignen Gesetze
zu überlassen, sollte man dies beim Zinsfuß gewiß erwarten. Und doch gehören
gesetzliche Vorschriften über seine Höhe zu den bis auf den heutigen Tag ver-
breitetsten Erscheinungen. Diejenigen, welche darin ein Mittel zur Beschränkung
des Materialismus unsrer Zeit sehen, wollen wir nicht weiter berücksichtigen.
Denn einmal ist es schon hervorgehoben worden, daß solche Tendenz sich des
Rechts nicht als Mittel bedienen kann, weil sie in ein andres Gebiet fällt;
andrerseits aber glauben wir, daß dieses Bestreben sich nicht blos gegen ein
Symptlfln anstatt gegen die Ursache richten, sondern einen noch auffälligeren
Fehler begehen würde, etwa wie ein Arzt, der bei der Behandlung eines
Pockenkranken seine ganze Kunst auf Fortschaffung einer einzigen Beule wen¬
den wollte. Viel triftigeren Einwänden haben wir da zu begegnen, wo die
Opposition gegen die Zinsfreiheit sich auf eine besondere Theorie des Capitals,
auf die Interessen des Grundbesitzes oder gar auf die bedrohte Harmonie des
gesammten Volkslebens gründet. Bevor wir aber hierauf eingehen, glauben
wir denjenigen unsrer Leser, welche außerhalb des preußischen Staats stehen
oder die Veranlassung der jetzigen Kammcrvcrhandiung aus den Augen ver¬
loren haben, eine kurze Andeutung über die preußische Zinsgesetzgebung und
ihre Suspension im November des vergangnen Jahres schuldig zu sein.

Der Zinsfuß ist in Preußen auf die Grenze von 5°/<,, in einzelnen Pro¬
vinzen auf 6°/o, zwischen Kaufleuten und Kaufleuten überhaupt auf 6°/g be¬
schränkt. Das Landrecht bestrafte Überschreitungen desselben, wenn sie sich
unter einem andern Geschäft versteckten, mit Verlust der gesammten Forde¬
rung an den Fiscus, sonst nur mit civilrechtlichen Folgen. Durch das Straf¬
gesetzbuch von 1851 wird die gewohnheitsmäßige oder unter einem andern
Geschäft versteckte Überschreitung des gesetzlichen Zinsfußes mit Gefängniß
von drei Monaten bis zu einem Jahr und zugleich mit Geldbuße vou 5» bis
1000 Thlr. so wie mit Untersagung der bürgerlichen Ehrenrechte ans Zeit be¬
straft. Troß dieser hohen und insamirend'en Strafen blühte der Wucher
seit 1851 mehr denn je, und von hundert Fällen gelangten vielleicht nur fünf zur
Anzeige, von diesen nur einer oder zwei der Art, daß das Gesetz wirklich
angewandt werden konnte.

Die einzige Folge war, daß anständige Leute, die von ihren Zinsen
lebten, sich mit 5°/<> begnügen mußten, während mit ihrem Geld vielleicht ein
Gewinn von 15 und 20°/<> gemacht wurde, und daß in allen Fällen, wo die
Gefahr eines Darlehns mit 5°/^ nicht hinreichend ausgeglichen wurde, Geld
nur von Blutsaugern zu erhalten war, die kein Bedenken trugen, es auf
eine Belanguug wegen Wuchers ankommen zu lassen. Daß diese Aufopferung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/422>, abgerufen am 28.07.2024.