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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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- So einem fast gewissen Tode entronnen, ging Josephus einer kaum we¬
niger furchtbaren Gefahr entgegen. Vespasian wollte ihn anfangs an Nero
schicken, aber der gewandte Mann wußte Titus für sich einzunehmen und
Vespasian zu imponiren, indem er sich mit dem Nimbus des Prophetenthums
umgab, und ihm die künftige Kaiserwürde weissagte. Sogleich in einer an¬
ständigen Gefangenschaft gehalten, wurde er mit immer größerer Auszeichnung
behandelt, je mehr seine Prophezeihung sich ihrer Erfüllung näherte. Nach'
dem er im römischen Lager der Belagerung und Einnahme Jerusalems bei¬
gewohnt hatte, begab er sich mit Titus nach Rom, wo ihm Vespasian sein
eignes früheres Haus zur Wohnung anwies, ihm das römische Bürgerrecht,
em Jahrgehnlt und große Güter in Judäa schenkte. In seiner nunmehrigen
Muße verfaßte er seine Werke. Sein Todesjahr ist unbekannt. Es verdient
Bemerkung, daß er des Christenthums und seines Stifters so gut wie nirgend
gedenkt. Schwerlich hatte er einen Grund es absichtlich zu ignoriren, ver¬
muthlich ahnte er nichts von seiner welthistorischen Bedeutung und legte ihm
ebenso wenig Gewicht bei. wie den zahlreichen pseudomessianischen Bewegungen,
die sich damals in Iudüa kundgaben, und deren er auch zuweilen gedenkt.

Daß der Mann, der es vermochte den Vennchtungskampf und Untergang
seines Vaterlandes aus dem Lager der Feinde mit anzusehen, in seiner Dar¬
stellung dieser furchtbaren Katastrophe nur sehr bedingten Glauben verdient,
versteht sich von selbst. Glücklicherweise gibt er thatsächliches Material genug,
um seine eigne Erzählung zu controliren und vielfach auch zu widerlegen.
Man braucht bei Josephus nicht einmal zwischen den Zeilen zu lesen, um sich
zu überzeugen, daß die Juden zum Aufstande so gut wie gezwungen wurden,
daß selbst der Untergang ihnen als Erlösung vus unerträglichen Zuständen
willkommen sein mußte, und dieser Untergang war keineswegs so gewiß, die
Empörung keineswegs ein so völlig hoffnungsloses und verrücktes Unternehmen,
als Josephus es darstellt.

In einer Beziehung haben wir die vollste Sicherheit, daß Josephus uicht
zu viel gesagt hat: in allem Schlimmen nämlich, was er der römischen Ver¬
waltung von Judäa nachsagt. Zustände, über welche ein solcher Bericht mit
Titus ausdrücklicher Genehmigung veröffentlicht werden konnte, müssen in der
That himmelschreiend gewesen sein. Im Allgemeinen haben wir Grund zu
glauben, daß die Provinzen sich in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit
leidlicher befanden als während der Republik, wenigstens scheint der Grund¬
satz Tibers im Ganzen befolgt worden zu sein, daß man die Schafe zwar
scheeren, aber nicht schinden müsse. Das unglückliche Judäa aber siel in die
Hände einer Reihe von nichtswürdigen Landpflegern (Procuratorem), deren
schamlose Erpressungen und brutale Gewaltthaten selbst.orientalische Geduld
erschöpfen mußten. Und doch hätte das beklagenswerthe Volk auch diese


Grenzboten I. loss. 43

- So einem fast gewissen Tode entronnen, ging Josephus einer kaum we¬
niger furchtbaren Gefahr entgegen. Vespasian wollte ihn anfangs an Nero
schicken, aber der gewandte Mann wußte Titus für sich einzunehmen und
Vespasian zu imponiren, indem er sich mit dem Nimbus des Prophetenthums
umgab, und ihm die künftige Kaiserwürde weissagte. Sogleich in einer an¬
ständigen Gefangenschaft gehalten, wurde er mit immer größerer Auszeichnung
behandelt, je mehr seine Prophezeihung sich ihrer Erfüllung näherte. Nach'
dem er im römischen Lager der Belagerung und Einnahme Jerusalems bei¬
gewohnt hatte, begab er sich mit Titus nach Rom, wo ihm Vespasian sein
eignes früheres Haus zur Wohnung anwies, ihm das römische Bürgerrecht,
em Jahrgehnlt und große Güter in Judäa schenkte. In seiner nunmehrigen
Muße verfaßte er seine Werke. Sein Todesjahr ist unbekannt. Es verdient
Bemerkung, daß er des Christenthums und seines Stifters so gut wie nirgend
gedenkt. Schwerlich hatte er einen Grund es absichtlich zu ignoriren, ver¬
muthlich ahnte er nichts von seiner welthistorischen Bedeutung und legte ihm
ebenso wenig Gewicht bei. wie den zahlreichen pseudomessianischen Bewegungen,
die sich damals in Iudüa kundgaben, und deren er auch zuweilen gedenkt.

Daß der Mann, der es vermochte den Vennchtungskampf und Untergang
seines Vaterlandes aus dem Lager der Feinde mit anzusehen, in seiner Dar¬
stellung dieser furchtbaren Katastrophe nur sehr bedingten Glauben verdient,
versteht sich von selbst. Glücklicherweise gibt er thatsächliches Material genug,
um seine eigne Erzählung zu controliren und vielfach auch zu widerlegen.
Man braucht bei Josephus nicht einmal zwischen den Zeilen zu lesen, um sich
zu überzeugen, daß die Juden zum Aufstande so gut wie gezwungen wurden,
daß selbst der Untergang ihnen als Erlösung vus unerträglichen Zuständen
willkommen sein mußte, und dieser Untergang war keineswegs so gewiß, die
Empörung keineswegs ein so völlig hoffnungsloses und verrücktes Unternehmen,
als Josephus es darstellt.

In einer Beziehung haben wir die vollste Sicherheit, daß Josephus uicht
zu viel gesagt hat: in allem Schlimmen nämlich, was er der römischen Ver¬
waltung von Judäa nachsagt. Zustände, über welche ein solcher Bericht mit
Titus ausdrücklicher Genehmigung veröffentlicht werden konnte, müssen in der
That himmelschreiend gewesen sein. Im Allgemeinen haben wir Grund zu
glauben, daß die Provinzen sich in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit
leidlicher befanden als während der Republik, wenigstens scheint der Grund¬
satz Tibers im Ganzen befolgt worden zu sein, daß man die Schafe zwar
scheeren, aber nicht schinden müsse. Das unglückliche Judäa aber siel in die
Hände einer Reihe von nichtswürdigen Landpflegern (Procuratorem), deren
schamlose Erpressungen und brutale Gewaltthaten selbst.orientalische Geduld
erschöpfen mußten. Und doch hätte das beklagenswerthe Volk auch diese


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[0345] - So einem fast gewissen Tode entronnen, ging Josephus einer kaum we¬ niger furchtbaren Gefahr entgegen. Vespasian wollte ihn anfangs an Nero schicken, aber der gewandte Mann wußte Titus für sich einzunehmen und Vespasian zu imponiren, indem er sich mit dem Nimbus des Prophetenthums umgab, und ihm die künftige Kaiserwürde weissagte. Sogleich in einer an¬ ständigen Gefangenschaft gehalten, wurde er mit immer größerer Auszeichnung behandelt, je mehr seine Prophezeihung sich ihrer Erfüllung näherte. Nach' dem er im römischen Lager der Belagerung und Einnahme Jerusalems bei¬ gewohnt hatte, begab er sich mit Titus nach Rom, wo ihm Vespasian sein eignes früheres Haus zur Wohnung anwies, ihm das römische Bürgerrecht, em Jahrgehnlt und große Güter in Judäa schenkte. In seiner nunmehrigen Muße verfaßte er seine Werke. Sein Todesjahr ist unbekannt. Es verdient Bemerkung, daß er des Christenthums und seines Stifters so gut wie nirgend gedenkt. Schwerlich hatte er einen Grund es absichtlich zu ignoriren, ver¬ muthlich ahnte er nichts von seiner welthistorischen Bedeutung und legte ihm ebenso wenig Gewicht bei. wie den zahlreichen pseudomessianischen Bewegungen, die sich damals in Iudüa kundgaben, und deren er auch zuweilen gedenkt. Daß der Mann, der es vermochte den Vennchtungskampf und Untergang seines Vaterlandes aus dem Lager der Feinde mit anzusehen, in seiner Dar¬ stellung dieser furchtbaren Katastrophe nur sehr bedingten Glauben verdient, versteht sich von selbst. Glücklicherweise gibt er thatsächliches Material genug, um seine eigne Erzählung zu controliren und vielfach auch zu widerlegen. Man braucht bei Josephus nicht einmal zwischen den Zeilen zu lesen, um sich zu überzeugen, daß die Juden zum Aufstande so gut wie gezwungen wurden, daß selbst der Untergang ihnen als Erlösung vus unerträglichen Zuständen willkommen sein mußte, und dieser Untergang war keineswegs so gewiß, die Empörung keineswegs ein so völlig hoffnungsloses und verrücktes Unternehmen, als Josephus es darstellt. In einer Beziehung haben wir die vollste Sicherheit, daß Josephus uicht zu viel gesagt hat: in allem Schlimmen nämlich, was er der römischen Ver¬ waltung von Judäa nachsagt. Zustände, über welche ein solcher Bericht mit Titus ausdrücklicher Genehmigung veröffentlicht werden konnte, müssen in der That himmelschreiend gewesen sein. Im Allgemeinen haben wir Grund zu glauben, daß die Provinzen sich in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit leidlicher befanden als während der Republik, wenigstens scheint der Grund¬ satz Tibers im Ganzen befolgt worden zu sein, daß man die Schafe zwar scheeren, aber nicht schinden müsse. Das unglückliche Judäa aber siel in die Hände einer Reihe von nichtswürdigen Landpflegern (Procuratorem), deren schamlose Erpressungen und brutale Gewaltthaten selbst.orientalische Geduld erschöpfen mußten. Und doch hätte das beklagenswerthe Volk auch diese Grenzboten I. loss. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/345>, abgerufen am 28.07.2024.