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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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spärlichen Quellen des Mittelalters ebenso überraschende Resultate zu ziehn.
Was Eichhorn, Grimm, Wcntz u. a. für Deutschland, was Kemble für
England, Guizot für Frankreich gefunden haben, gibt auch dem eigentlichen
Geschichtschreiber den Fingerzeig, was der Leser an ihn für Fragen stellt,
und worüber er sich klar machen muß. bevor er seine Darstellung beginnt.
Wenn seit einiger Zeit die Darstellung so geordnet wird, daß bei jedem
bestimmten Abschnitt auf das Referat der eigentlichen sogenannten Geschichte
eine Uebersicht der sittlichen Zustände folgt, so ist das ein wesentlicher Fort¬
schritt gegen früher, aber noch keineswegs das höchste Ideal der Geschicht¬
schreibung, das vielmehr darin bestände, beides zu einem organischen Ganzen
zu verweben.

Die Aufgabe hat unendliche Schwierigkeiten;- es scheint uns, als gäbe
es nur ein Mittel sie zu lösen. Freilich ist dies Mittel den herrschenden
Ueberzeugungen grade der besseren unserer Historiker entgegen, die mehr und
mehr darauf ausgehen, den Geschichtschreiber ganz hinter den Gegenstand
zurücktreten zu lassen, und diesen, wie man sich heut ausdrückt, ganz objectiv
darzustellen.

Es ist nämlich die Frage, ob nicht die höchste Stufe der Kunst diejenige
wäre, das natürliche Verhältniß rein und unbefangen hervortreten zu lassen.
Das geschieht bei unserer jetzigen Geschichtschreibung nicht. Der Geschicht¬
schreiber beginnt mit einer gründlichen, wiederholten Lectüre der Quellen, mit
einer gewissenhaften Prüfung ihrer Glaubwürdigkeit, mit ihrer Vergleichung
untereinander, mit einer Uebertragung einzelner Fälle auf die Regel, und
einer Anwendung der so gefundenen Regel auf unklare einzelne Fälle u. f. w.
Sobald er aber mit diesen Vorarbeiten fertig ist, hält er es für seine Pflicht,
sie dem Publicum zu verstecken, und die Resultate seiner Forschungen so zu
erzählen, als seien sie ihm gewissermaßen offenbart worden. Früher empfing
der Leser wenigstens aus zahlreichen Anmerkungen einige Ausklärung über
die Vorarbeiten des Geschichtschreibers, wobei freilich in der Regel der
Fehler begangen wurde, daß man alles erzählte, was man gelesen und ge¬
lernt hatte, gleichviel ob diese Lectüre zu den Resultaten in einem nothwen¬
digen Verhältniß stand. Jetzt gilt das für unschicklich. Ein reinlicher Schrift¬
steller macht gar keine Anmerkungen, sondern er gibt nur einen Anhang, in
welchem er theils ungedruckte Actenstücke in extenso mittheilt, damit sie auch
weiter benutzt werden können, theils dem Gelehrten gegenüber seine abweichenden
Ansichten motivirt. Derjenige Leser, für den eigentlich das Werk geschrieben
ist, hat in diesem Anhang nichts zu suchen. Der Text enthält, wenn auch'
mit viel tieferer Bildung als die Geschichten des vorigen Jahrhunderts, das
thatsächliche, pragmatisch reflectirte Resultat aus den Forschungen, die nun
das Ihrige gethan haben und beseitigt werden können.


spärlichen Quellen des Mittelalters ebenso überraschende Resultate zu ziehn.
Was Eichhorn, Grimm, Wcntz u. a. für Deutschland, was Kemble für
England, Guizot für Frankreich gefunden haben, gibt auch dem eigentlichen
Geschichtschreiber den Fingerzeig, was der Leser an ihn für Fragen stellt,
und worüber er sich klar machen muß. bevor er seine Darstellung beginnt.
Wenn seit einiger Zeit die Darstellung so geordnet wird, daß bei jedem
bestimmten Abschnitt auf das Referat der eigentlichen sogenannten Geschichte
eine Uebersicht der sittlichen Zustände folgt, so ist das ein wesentlicher Fort¬
schritt gegen früher, aber noch keineswegs das höchste Ideal der Geschicht¬
schreibung, das vielmehr darin bestände, beides zu einem organischen Ganzen
zu verweben.

Die Aufgabe hat unendliche Schwierigkeiten;- es scheint uns, als gäbe
es nur ein Mittel sie zu lösen. Freilich ist dies Mittel den herrschenden
Ueberzeugungen grade der besseren unserer Historiker entgegen, die mehr und
mehr darauf ausgehen, den Geschichtschreiber ganz hinter den Gegenstand
zurücktreten zu lassen, und diesen, wie man sich heut ausdrückt, ganz objectiv
darzustellen.

Es ist nämlich die Frage, ob nicht die höchste Stufe der Kunst diejenige
wäre, das natürliche Verhältniß rein und unbefangen hervortreten zu lassen.
Das geschieht bei unserer jetzigen Geschichtschreibung nicht. Der Geschicht¬
schreiber beginnt mit einer gründlichen, wiederholten Lectüre der Quellen, mit
einer gewissenhaften Prüfung ihrer Glaubwürdigkeit, mit ihrer Vergleichung
untereinander, mit einer Uebertragung einzelner Fälle auf die Regel, und
einer Anwendung der so gefundenen Regel auf unklare einzelne Fälle u. f. w.
Sobald er aber mit diesen Vorarbeiten fertig ist, hält er es für seine Pflicht,
sie dem Publicum zu verstecken, und die Resultate seiner Forschungen so zu
erzählen, als seien sie ihm gewissermaßen offenbart worden. Früher empfing
der Leser wenigstens aus zahlreichen Anmerkungen einige Ausklärung über
die Vorarbeiten des Geschichtschreibers, wobei freilich in der Regel der
Fehler begangen wurde, daß man alles erzählte, was man gelesen und ge¬
lernt hatte, gleichviel ob diese Lectüre zu den Resultaten in einem nothwen¬
digen Verhältniß stand. Jetzt gilt das für unschicklich. Ein reinlicher Schrift¬
steller macht gar keine Anmerkungen, sondern er gibt nur einen Anhang, in
welchem er theils ungedruckte Actenstücke in extenso mittheilt, damit sie auch
weiter benutzt werden können, theils dem Gelehrten gegenüber seine abweichenden
Ansichten motivirt. Derjenige Leser, für den eigentlich das Werk geschrieben
ist, hat in diesem Anhang nichts zu suchen. Der Text enthält, wenn auch'
mit viel tieferer Bildung als die Geschichten des vorigen Jahrhunderts, das
thatsächliche, pragmatisch reflectirte Resultat aus den Forschungen, die nun
das Ihrige gethan haben und beseitigt werden können.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/216>, abgerufen am 22.12.2024.