Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.doch verloren, der eben darin liegt, daß man den Contrast der Bildung Was es mit dem Interesse an dem Wortlaut der Quellen für eine Be- Freilich darf man vom Geschichtschreiber nicht das Unmögliche verlangen; doch verloren, der eben darin liegt, daß man den Contrast der Bildung Was es mit dem Interesse an dem Wortlaut der Quellen für eine Be- Freilich darf man vom Geschichtschreiber nicht das Unmögliche verlangen; <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0215" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105492"/> <p xml:id="ID_525" prev="#ID_524"> doch verloren, der eben darin liegt, daß man den Contrast der Bildung<lb/> empfindet, und durch diesen Contrast die Eigenthümlichkeit der geschilderten<lb/> Zeit deutlicher gewahr wird. Wir sprechen auch hier ausschließlich vom<lb/> Mittelalter, um die Frage nicht zu verwirren. Bei der Behandlung der<lb/> modernen Quellen, für welche z. B. Ranke. Macaulay und Thiers Muster<lb/> sind, wird sich ein anderer Gesichtspunkt herausstellen, der freilich in letzter<lb/> Instanz wieder auf dasselbe Princip zurückführt.</p><lb/> <p xml:id="ID_526"> Was es mit dem Interesse an dem Wortlaut der Quellen für eine Be-<lb/> wandtniß hat. erkennt man in dem Werk, welches uns zu diesen Betrachtungen<lb/> veranlaßt, hauptsächlich an dem Bericht des Bischof Liutbrand über seine<lb/> Gesandtschaftsreise nach Konstantinopel, dem einzigen Excerpt von größerm<lb/> Umfang, welches Giesebrecht mittheilt. Freilich ist grade dieser Bericht von<lb/> ungewöhnlich anziehender Farbe, was auch Müller veranlaßt hat, ihn aus¬<lb/> zugsweise seiner allgemeinen Geschichte einzuverleiben, wo er in der That<lb/> nicht hingehört, aber blättert man dann weiter in den übrigen Schriften<lb/> des ehrlichen Bischofs, die jetzt durch die deutsche Uebersetzung dem gesammten<lb/> Publicum zugänglich sind, so entdeckt man gar vieles, was sür die Farbe der<lb/> deutschen Geschichte vortrefflich Hütte benutzt werden können, und was sich<lb/> Giesebrecht hat entgehn lassen. Und so ist es fast mit allen Chroniken des<lb/> Mittelalters: neben der Ausbeute an Thatsachen findet man bei ihnen auch<lb/> das reichhaltigste Material, um sich die Periode in sinnliche Gegenwart zu<lb/> übersetzen. Hätte Giesebrecht aus jenem Gesandtschaftsbericht ein bloßes<lb/> Referat gemacht, so würde man nicht viel davon haben; die Gesandtschaft<lb/> hatte keine Folge und der Berichterstatter ist in seiner Wuth gegen die<lb/> schlechten Mahlzeiten der Griechen, gegen ihr unanständiges Costüm und ihre<lb/> anscheinend sehr civilisirten, aber rohen Formen nicht einmal in den Angaben<lb/> ganz zuverlässig. Aber man lernt daraus mehr als aus einem umfangreichen<lb/> pragmatischen Referat, in welchem jeder einzelne Punkt kritisch beglaubigt wäre,<lb/> man erfährt im Detail, wie eine Menschenseele in jener Periode empfand,<lb/> und erst dadurch lernt man das wirkliche Leben einer Zeit, lernt man ihre<lb/> realen Zustände kennen.</p><lb/> <p xml:id="ID_527" next="#ID_528"> Freilich darf man vom Geschichtschreiber nicht das Unmögliche verlangen;<lb/> so gut wie hier wird es ihm nur selten geboten, aber die Fortschritte unserer<lb/> Wissenschaft befähigen ihn, künstlerisch bis zu einem gewissen Grad das<lb/> Fehlende zu ergänzen. Wenn die Rechtsquellen des Mittelalters nicht so<lb/> reichlich fließen als zu unserer Zeit, wo,Tocqueville eine ganze Reihe von<lb/> Jahren damit zu thun hatte, aus einer Durchsicht der Präfecturregisicr sich<lb/> ein vollständiges Bild von dem innern Leben einer Zeit zu entwerfen, die<lb/> uns anscheinend in nächster Nähe liegt und von der wir doch durch eine so<lb/> tiefe Kluft getrennt sind, so befähigt uns unsere kritische Methode, aus den</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0215]
doch verloren, der eben darin liegt, daß man den Contrast der Bildung
empfindet, und durch diesen Contrast die Eigenthümlichkeit der geschilderten
Zeit deutlicher gewahr wird. Wir sprechen auch hier ausschließlich vom
Mittelalter, um die Frage nicht zu verwirren. Bei der Behandlung der
modernen Quellen, für welche z. B. Ranke. Macaulay und Thiers Muster
sind, wird sich ein anderer Gesichtspunkt herausstellen, der freilich in letzter
Instanz wieder auf dasselbe Princip zurückführt.
Was es mit dem Interesse an dem Wortlaut der Quellen für eine Be-
wandtniß hat. erkennt man in dem Werk, welches uns zu diesen Betrachtungen
veranlaßt, hauptsächlich an dem Bericht des Bischof Liutbrand über seine
Gesandtschaftsreise nach Konstantinopel, dem einzigen Excerpt von größerm
Umfang, welches Giesebrecht mittheilt. Freilich ist grade dieser Bericht von
ungewöhnlich anziehender Farbe, was auch Müller veranlaßt hat, ihn aus¬
zugsweise seiner allgemeinen Geschichte einzuverleiben, wo er in der That
nicht hingehört, aber blättert man dann weiter in den übrigen Schriften
des ehrlichen Bischofs, die jetzt durch die deutsche Uebersetzung dem gesammten
Publicum zugänglich sind, so entdeckt man gar vieles, was sür die Farbe der
deutschen Geschichte vortrefflich Hütte benutzt werden können, und was sich
Giesebrecht hat entgehn lassen. Und so ist es fast mit allen Chroniken des
Mittelalters: neben der Ausbeute an Thatsachen findet man bei ihnen auch
das reichhaltigste Material, um sich die Periode in sinnliche Gegenwart zu
übersetzen. Hätte Giesebrecht aus jenem Gesandtschaftsbericht ein bloßes
Referat gemacht, so würde man nicht viel davon haben; die Gesandtschaft
hatte keine Folge und der Berichterstatter ist in seiner Wuth gegen die
schlechten Mahlzeiten der Griechen, gegen ihr unanständiges Costüm und ihre
anscheinend sehr civilisirten, aber rohen Formen nicht einmal in den Angaben
ganz zuverlässig. Aber man lernt daraus mehr als aus einem umfangreichen
pragmatischen Referat, in welchem jeder einzelne Punkt kritisch beglaubigt wäre,
man erfährt im Detail, wie eine Menschenseele in jener Periode empfand,
und erst dadurch lernt man das wirkliche Leben einer Zeit, lernt man ihre
realen Zustände kennen.
Freilich darf man vom Geschichtschreiber nicht das Unmögliche verlangen;
so gut wie hier wird es ihm nur selten geboten, aber die Fortschritte unserer
Wissenschaft befähigen ihn, künstlerisch bis zu einem gewissen Grad das
Fehlende zu ergänzen. Wenn die Rechtsquellen des Mittelalters nicht so
reichlich fließen als zu unserer Zeit, wo,Tocqueville eine ganze Reihe von
Jahren damit zu thun hatte, aus einer Durchsicht der Präfecturregisicr sich
ein vollständiges Bild von dem innern Leben einer Zeit zu entwerfen, die
uns anscheinend in nächster Nähe liegt und von der wir doch durch eine so
tiefe Kluft getrennt sind, so befähigt uns unsere kritische Methode, aus den
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