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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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der Gewohnheit des Befehlens und Dienens hervorgehn, kommt in die Zeich¬
nung etwas Verwaschenes, Grade wie in den Zeiten der Romantik isoliren
sich Stifters ideale Naturen von dem wirklichen Leben und führen ihre
künstlerischen Ansichten in der Einsamkeit durch. Man fühlt sich wie auf einer
Nohinsoninsel, zu der von dem bewegten Treiben der Menschen nur selten
eine Kunde gelangt. Es ist charakteristisch, daß die meisten dieser Personen
anonym sind, man erfährt ihren Namen in der Regel erst im letzten Bande.
Der Name gehört aber auch zur Physiognomie des Menschen und man
kommt sich unter diesen schönen, aber beziehungslosen Figuren wie in einer
Schattenwelt vor, kurz gesagt, wir haben es mit lauter Rentiers zu thun, die
zwar ihre Muße nützlich und schicklich ausfüllen, aber doch nach Gutdünken,
wie die Gesellschaft des Phantasus. Es fehlt die strenge.Nothwendigkeit des
Lebens, die allein greifbare Gestalten möglich macht. Gearbeitet wird viel
in diesem Roman, aber nur aus Neigung, aus Liebhaberei, und erst das ist
die wahre Arbeit, welche sich entäußert und dient. Selbst in dem bürgerlichen
Kaufmannshaus, in das wir zu Anfang eingeführt werden, sehn wir nur
den Sonntag, nur die Erziehung der Kinder und die ernsten Liebhabereien
des Baders. Sein eigentliches Geschäft hat mit seinem Gemüth nichts
zu thun, es ist ihm nur ein äußeres Mittel, Ideal und Leben fallen aus¬
einander. So fehlt sämmtlichen Figuren eine gewisse Körperlichkeit und
nur Eins ist es, was uns mit ihnen aussöhnt, die ganze Erzählung
ist vom Geist ernster und edler Pflicht durchhaucht, es waltet darin
eine Heiligkeit und Keuschheit der Empfindung, die uns' noch mehr ergreifen
würde, wenn der Dichter nicht blos mit Licht gemalt hätte. Der Schatten
fehlt gänzlich, und doch entwickelt sich die Kraft erst durch den Wider¬
stand, das Licht erst durch den Contrast gegen das Dunkel. Eine Spur starker
Leidenschaft würde uns in dieser Dämmerung glücklich' machen und wir sind
dem Dichter schon dankbar, wenn er sie uns nur.ahnen läßt. Diese bestän¬
dige Resignation, diese Abwesenheit aller heftigen und trotzige" Regung ver¬
räth doch einen Mangel an jugendlicher Dichterkraft und wenn wir in dem
Buch echte Lebensweisheit haben, so ist es doch nur die Weisheit des Alters.

Aber freilich ist es ein schöner, warmer, erfrischender Nachsommer, der
uns aus diesen Blättern entgegenweht. Hinter der Abendstille der Stimmung
verstecken sich zwar nicht starke energische Leidenschaften, aber einige seelen¬
volle Regungen, die den Leser noch mehr fesseln würden, wenn der Dichter
ihn darauf vorbereiten wollte. Da es nicht ganz leicht ist, den Roman
ununterbrochen fortzulescn, so halten wir es nicht sür überflüssig, den Leser
auf einige besonders schöne Stellen hinzuweisen. Man vergleiche die beiden
Stimmungen B. I. S. 395 und B. III. S. 4. In beiden sammelt der Held
sein aufgeregtes Gemüth im Anschaun der Natur, das erste Mal. nachdem er


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der Gewohnheit des Befehlens und Dienens hervorgehn, kommt in die Zeich¬
nung etwas Verwaschenes, Grade wie in den Zeiten der Romantik isoliren
sich Stifters ideale Naturen von dem wirklichen Leben und führen ihre
künstlerischen Ansichten in der Einsamkeit durch. Man fühlt sich wie auf einer
Nohinsoninsel, zu der von dem bewegten Treiben der Menschen nur selten
eine Kunde gelangt. Es ist charakteristisch, daß die meisten dieser Personen
anonym sind, man erfährt ihren Namen in der Regel erst im letzten Bande.
Der Name gehört aber auch zur Physiognomie des Menschen und man
kommt sich unter diesen schönen, aber beziehungslosen Figuren wie in einer
Schattenwelt vor, kurz gesagt, wir haben es mit lauter Rentiers zu thun, die
zwar ihre Muße nützlich und schicklich ausfüllen, aber doch nach Gutdünken,
wie die Gesellschaft des Phantasus. Es fehlt die strenge.Nothwendigkeit des
Lebens, die allein greifbare Gestalten möglich macht. Gearbeitet wird viel
in diesem Roman, aber nur aus Neigung, aus Liebhaberei, und erst das ist
die wahre Arbeit, welche sich entäußert und dient. Selbst in dem bürgerlichen
Kaufmannshaus, in das wir zu Anfang eingeführt werden, sehn wir nur
den Sonntag, nur die Erziehung der Kinder und die ernsten Liebhabereien
des Baders. Sein eigentliches Geschäft hat mit seinem Gemüth nichts
zu thun, es ist ihm nur ein äußeres Mittel, Ideal und Leben fallen aus¬
einander. So fehlt sämmtlichen Figuren eine gewisse Körperlichkeit und
nur Eins ist es, was uns mit ihnen aussöhnt, die ganze Erzählung
ist vom Geist ernster und edler Pflicht durchhaucht, es waltet darin
eine Heiligkeit und Keuschheit der Empfindung, die uns' noch mehr ergreifen
würde, wenn der Dichter nicht blos mit Licht gemalt hätte. Der Schatten
fehlt gänzlich, und doch entwickelt sich die Kraft erst durch den Wider¬
stand, das Licht erst durch den Contrast gegen das Dunkel. Eine Spur starker
Leidenschaft würde uns in dieser Dämmerung glücklich' machen und wir sind
dem Dichter schon dankbar, wenn er sie uns nur.ahnen läßt. Diese bestän¬
dige Resignation, diese Abwesenheit aller heftigen und trotzige» Regung ver¬
räth doch einen Mangel an jugendlicher Dichterkraft und wenn wir in dem
Buch echte Lebensweisheit haben, so ist es doch nur die Weisheit des Alters.

Aber freilich ist es ein schöner, warmer, erfrischender Nachsommer, der
uns aus diesen Blättern entgegenweht. Hinter der Abendstille der Stimmung
verstecken sich zwar nicht starke energische Leidenschaften, aber einige seelen¬
volle Regungen, die den Leser noch mehr fesseln würden, wenn der Dichter
ihn darauf vorbereiten wollte. Da es nicht ganz leicht ist, den Roman
ununterbrochen fortzulescn, so halten wir es nicht sür überflüssig, den Leser
auf einige besonders schöne Stellen hinzuweisen. Man vergleiche die beiden
Stimmungen B. I. S. 395 und B. III. S. 4. In beiden sammelt der Held
sein aufgeregtes Gemüth im Anschaun der Natur, das erste Mal. nachdem er


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[0179] der Gewohnheit des Befehlens und Dienens hervorgehn, kommt in die Zeich¬ nung etwas Verwaschenes, Grade wie in den Zeiten der Romantik isoliren sich Stifters ideale Naturen von dem wirklichen Leben und führen ihre künstlerischen Ansichten in der Einsamkeit durch. Man fühlt sich wie auf einer Nohinsoninsel, zu der von dem bewegten Treiben der Menschen nur selten eine Kunde gelangt. Es ist charakteristisch, daß die meisten dieser Personen anonym sind, man erfährt ihren Namen in der Regel erst im letzten Bande. Der Name gehört aber auch zur Physiognomie des Menschen und man kommt sich unter diesen schönen, aber beziehungslosen Figuren wie in einer Schattenwelt vor, kurz gesagt, wir haben es mit lauter Rentiers zu thun, die zwar ihre Muße nützlich und schicklich ausfüllen, aber doch nach Gutdünken, wie die Gesellschaft des Phantasus. Es fehlt die strenge.Nothwendigkeit des Lebens, die allein greifbare Gestalten möglich macht. Gearbeitet wird viel in diesem Roman, aber nur aus Neigung, aus Liebhaberei, und erst das ist die wahre Arbeit, welche sich entäußert und dient. Selbst in dem bürgerlichen Kaufmannshaus, in das wir zu Anfang eingeführt werden, sehn wir nur den Sonntag, nur die Erziehung der Kinder und die ernsten Liebhabereien des Baders. Sein eigentliches Geschäft hat mit seinem Gemüth nichts zu thun, es ist ihm nur ein äußeres Mittel, Ideal und Leben fallen aus¬ einander. So fehlt sämmtlichen Figuren eine gewisse Körperlichkeit und nur Eins ist es, was uns mit ihnen aussöhnt, die ganze Erzählung ist vom Geist ernster und edler Pflicht durchhaucht, es waltet darin eine Heiligkeit und Keuschheit der Empfindung, die uns' noch mehr ergreifen würde, wenn der Dichter nicht blos mit Licht gemalt hätte. Der Schatten fehlt gänzlich, und doch entwickelt sich die Kraft erst durch den Wider¬ stand, das Licht erst durch den Contrast gegen das Dunkel. Eine Spur starker Leidenschaft würde uns in dieser Dämmerung glücklich' machen und wir sind dem Dichter schon dankbar, wenn er sie uns nur.ahnen läßt. Diese bestän¬ dige Resignation, diese Abwesenheit aller heftigen und trotzige» Regung ver¬ räth doch einen Mangel an jugendlicher Dichterkraft und wenn wir in dem Buch echte Lebensweisheit haben, so ist es doch nur die Weisheit des Alters. Aber freilich ist es ein schöner, warmer, erfrischender Nachsommer, der uns aus diesen Blättern entgegenweht. Hinter der Abendstille der Stimmung verstecken sich zwar nicht starke energische Leidenschaften, aber einige seelen¬ volle Regungen, die den Leser noch mehr fesseln würden, wenn der Dichter ihn darauf vorbereiten wollte. Da es nicht ganz leicht ist, den Roman ununterbrochen fortzulescn, so halten wir es nicht sür überflüssig, den Leser auf einige besonders schöne Stellen hinzuweisen. Man vergleiche die beiden Stimmungen B. I. S. 395 und B. III. S. 4. In beiden sammelt der Held sein aufgeregtes Gemüth im Anschaun der Natur, das erste Mal. nachdem er '22'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/179>, abgerufen am 22.12.2024.