Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.aller Fortschritt der Cultur auf Anticipation und Abstraction beruht. Für den Mit nicht mindern Ernst und nicht geringerer Einsicht als das wissen¬ Grenzboten I. 1353. 22
aller Fortschritt der Cultur auf Anticipation und Abstraction beruht. Für den Mit nicht mindern Ernst und nicht geringerer Einsicht als das wissen¬ Grenzboten I. 1353. 22
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aller Fortschritt der Cultur auf Anticipation und Abstraction beruht. Für den
Standpunkt- der Gegenwart und die augenblickliche Aufgabe der Wissenschaft
hat Stifter zuweilen einen sehr richtigen Instinkt, aber er hält sich nickt immer
alle Momente gleichmäßig vor Augen und komm? daher zuweilen zu einem
schiefen Resultat. „Ich glaube, „sagt er S. 189/' das: in der gegenwärtigen
Zeit der Standpunkt der Wissenschaft der des Sammelns ist. Entfernte Zeiten
werden aus dem Stoffe etwas bauen, das wir noch nicht kennen. Das
'Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus; das ist nicht merkwürdig,
denn das Sammeln muß ja vor der Wissenschaft sein, aber das ist merkwür¬
dig, daß der Drang des Sammelns in die Geister kommt, wenn eine Wissen¬
schaft erscheinen soll, wenn sie auch noch nicht wissen, was die Wissenschaft
enthalten wird. Es geht gleichsam der Reiz der Ahnung in die Herzen, wo¬
zu etwas da sein könne, und wozu es Gott bestellt haben möge." — Es ist
wol eine gemisst Wahrheit in diesen Worten, aber eine halbe. Manche von
den größten Gelehrten unserer Zeit, ihnen allen voran geht Jakob Grimm,
zeichnen sich hauptsächlich durch das scharfe und sinnige Auge für alles
Seiende aus; aber nicht minder regt sich der Trieb, der methodischen Analyse,
und grade in der Wissenschaft, die Stifter mit besonderer Vorliebe behandelt,
ist es nicht der Sammelgeist, sondern der Trieb , in den Kern der Dinge ein¬
zudringen, was die gegenwärtige Forschung von dem Geist früherer Jahr
Hunderte scheidet.
Mit nicht mindern Ernst und nicht geringerer Einsicht als das wissen¬
schaftliche Leben, wird die Kunst behandelt. Namentlich in zwei Punkten
könnte der Aesthetiker aus diesem Roman viel lernen, in dem Bemühen, den
künstlerischen Eindruck auf Naturgesetze zurückzuführen, und in der Entwick-
lung des.ttunsttriebs in einer individuellen Menschenseele. Wir verweisen den
Leser nuf die Schilderung einer mehr recipirenden' als schaffenden Künstler¬
natur Band III. S. 216- 226, wo auch die Berechtigung des Dilettantismus
innerhalb gewisser Grenzen scharfsinnig nachgewiesen ist. Für den Vergleich
des Gothischen und Griechischen findet der Dichter, der sie beide gleichmäßig
ehrt, zuweilen sehr glückliche Wendungen, und auch bekannte Sätze weiß er
durch den schönen Ausdruck sinnig der Phantasie einzuprägen, z. B. den
bekannten Satz, daß in schönen Kunstwerken Ruhe in Bewegung sein müsse.
»Man versteht gewöhnlich unter Bewegung Bewegbarkeit. Bewegung kann
die bildende Kunst gar nicht darstellen. Da die Kunst in der Regel lebende
Wesen, Menschen. Thiere. Pflanzen — und selbst die Landschaft trotz der
starrenden Berge ist mit ihren beweglichen Wolken und ihrem Pflanzenschmucke ^
dem Künstler ein Athmendes; denn sonst wird sie ihm ein Erstarrendes —
darstellt, so muß sie diese Gegenstände so darstellen, daß es dem Beschauer
erscheint, sie könnten sich im nächsten Augenblicke bewegen."
Grenzboten I. 1353. 22
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