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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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aufspürt, die man früher nicht beachtet hat, und grade in solchen Dichtungen,
wo dem Anscheine nach alles am Tage liegt. Liest man z. B. den Tasso in ruhi¬
ger Stimmung, so.hat man das Gefühl, daß die Schuld des Ausgangs, der nicht tra¬
gisch, sondern nur peinlich ist, hauptsächlich dem reizbaren Dichter zufällt, der bei
seinen edlen und liebenswürdigen Anlagen doch niemals weiß, was er will, im
Grunde auch niemals, was er denkt und empfindet. Rechnet man den einen Augen¬
blick ab, in dem sein gereizter Nebenbuhler ihn die Überlegenheit seines Verstandes
fühlen läßt und ihn in dem innersten Kern seines Herzens verwundet, so be¬
nehmen sich sämmtliche Personen so liebenswürdig, rücksichtsvoll und gütig
gegen ihn, daß wir die wilden Ausbrüche seiner gereizten Eitelkeit nur mit
höchster Mißbilligung zurückweisen können. Sehn wir aber näher zu, so fin¬
den wir, daß das Verhältniß noch eine andere Seite hat. Tassos starke Aus¬
drücke wird niemand rechtfertigen wollen, aber in der Sache hat er nicht Un¬
recht: er ist für seine Umgebung wirklich nur ein liebenswürdiges Spielzeug,
das sie auf jede Weise verhätscheln, das sie auch lieben, wie man ein Spiel¬
zeug liebt, das sie aber nicht im Licht einer freien menschlichen Person betrach¬
ten. Die kleine Gräfin, deren Motive auf Eitelkeit beruhn, spricht sich ganz
unbefangen darüber aus, aber der Herzog im letzten Gespräch mit Antonio
nicht minder, und aus der wohlwollend phlegmatischen Weise, wie er seinem
Aerger Luft macht, begreift man vollständig den Ausruf Tassos: er ist mein
Herr! Zwar wird dieser unwillkürliche Ausbruch wieder limitirt, Tasso ver¬
sichert, der Mensch sei nicht geboren frei zu sein, und es gebe kein größeres Glück,
als einem edlen Fürsten zu dienen; aber sein Herz ruft: er ist mein Herr! --
Vielleicht hat Goethe, der ein ganz anderer Charakter war als Tasso, der seine
Umgebungen dominirte und den der Herzog nicht blos als Künstler, sondern auch
als großen edlen Menschen ehrte, niemals so gesprochen, vielleicht niemals so
gedacht, aber er hat doch jenem Gefühl in Tasso einen Ausdruck gegeben, und
er gab in seinen Dichtungen nichts, als was aus seinem Herzen kam. Vielleicht
erinnerte sich der Dichter des Werther, deö Götz, des Egmont, des Faust doch zu¬
weilen an die Träume seiner Jugend, und bei einem edlen und stolzen Herzen
gehört die Freiheit zu den Träumen, die eS am wenigsten los wird. -- Aber
man muß noch weiter gehn. In jener wilden Aufregung Tassos, wo er seine
Umgebungen durchschaut zu haben glaubt, verletzt am meisten das letzte: auch
sie! auch sie! Hat er denn so unrecht? ist er nicht auch für Leonore mehr
Sache als Person? Ist für diese stille, schöne Seele der Gegenstand ihrer Nei¬
gung vielmehr als ein Traumbild? Sie handelt pflichtgemäß, ihrem Rang,
ihrer sittlichen Frauenwürde entsprechend, als sie ihm das vernichtende Hin¬
weg! zuruft, aber wer ernsthaft liebt, wird durch solche Wendungen nicht
überzeugt, und man erkennt, daß das .peinliche Verhältniß sich nicht als Re¬
sultat aus dem Stück entwickelt hat, sondern daß es von vornherein fertig


aufspürt, die man früher nicht beachtet hat, und grade in solchen Dichtungen,
wo dem Anscheine nach alles am Tage liegt. Liest man z. B. den Tasso in ruhi¬
ger Stimmung, so.hat man das Gefühl, daß die Schuld des Ausgangs, der nicht tra¬
gisch, sondern nur peinlich ist, hauptsächlich dem reizbaren Dichter zufällt, der bei
seinen edlen und liebenswürdigen Anlagen doch niemals weiß, was er will, im
Grunde auch niemals, was er denkt und empfindet. Rechnet man den einen Augen¬
blick ab, in dem sein gereizter Nebenbuhler ihn die Überlegenheit seines Verstandes
fühlen läßt und ihn in dem innersten Kern seines Herzens verwundet, so be¬
nehmen sich sämmtliche Personen so liebenswürdig, rücksichtsvoll und gütig
gegen ihn, daß wir die wilden Ausbrüche seiner gereizten Eitelkeit nur mit
höchster Mißbilligung zurückweisen können. Sehn wir aber näher zu, so fin¬
den wir, daß das Verhältniß noch eine andere Seite hat. Tassos starke Aus¬
drücke wird niemand rechtfertigen wollen, aber in der Sache hat er nicht Un¬
recht: er ist für seine Umgebung wirklich nur ein liebenswürdiges Spielzeug,
das sie auf jede Weise verhätscheln, das sie auch lieben, wie man ein Spiel¬
zeug liebt, das sie aber nicht im Licht einer freien menschlichen Person betrach¬
ten. Die kleine Gräfin, deren Motive auf Eitelkeit beruhn, spricht sich ganz
unbefangen darüber aus, aber der Herzog im letzten Gespräch mit Antonio
nicht minder, und aus der wohlwollend phlegmatischen Weise, wie er seinem
Aerger Luft macht, begreift man vollständig den Ausruf Tassos: er ist mein
Herr! Zwar wird dieser unwillkürliche Ausbruch wieder limitirt, Tasso ver¬
sichert, der Mensch sei nicht geboren frei zu sein, und es gebe kein größeres Glück,
als einem edlen Fürsten zu dienen; aber sein Herz ruft: er ist mein Herr! —
Vielleicht hat Goethe, der ein ganz anderer Charakter war als Tasso, der seine
Umgebungen dominirte und den der Herzog nicht blos als Künstler, sondern auch
als großen edlen Menschen ehrte, niemals so gesprochen, vielleicht niemals so
gedacht, aber er hat doch jenem Gefühl in Tasso einen Ausdruck gegeben, und
er gab in seinen Dichtungen nichts, als was aus seinem Herzen kam. Vielleicht
erinnerte sich der Dichter des Werther, deö Götz, des Egmont, des Faust doch zu¬
weilen an die Träume seiner Jugend, und bei einem edlen und stolzen Herzen
gehört die Freiheit zu den Träumen, die eS am wenigsten los wird. — Aber
man muß noch weiter gehn. In jener wilden Aufregung Tassos, wo er seine
Umgebungen durchschaut zu haben glaubt, verletzt am meisten das letzte: auch
sie! auch sie! Hat er denn so unrecht? ist er nicht auch für Leonore mehr
Sache als Person? Ist für diese stille, schöne Seele der Gegenstand ihrer Nei¬
gung vielmehr als ein Traumbild? Sie handelt pflichtgemäß, ihrem Rang,
ihrer sittlichen Frauenwürde entsprechend, als sie ihm das vernichtende Hin¬
weg! zuruft, aber wer ernsthaft liebt, wird durch solche Wendungen nicht
überzeugt, und man erkennt, daß das .peinliche Verhältniß sich nicht als Re¬
sultat aus dem Stück entwickelt hat, sondern daß es von vornherein fertig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/93>, abgerufen am 23.07.2024.