Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.den wir nirgend so unumwunden ausgesprochen, als in diesen Vorlesungen Schon das Princip, das er an die Spitze seiner Untersuchungen stellt, den wir nirgend so unumwunden ausgesprochen, als in diesen Vorlesungen Schon das Princip, das er an die Spitze seiner Untersuchungen stellt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0514" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105241"/> <p xml:id="ID_1383" prev="#ID_1382"> den wir nirgend so unumwunden ausgesprochen, als in diesen Vorlesungen<lb/> des angeblich reactionären Professors.</p><lb/> <p xml:id="ID_1384" next="#ID_1385"> Schon das Princip, das er an die Spitze seiner Untersuchungen stellt,<lb/> ist von der, Art, selbst den rücksichtslosesten Liberalen stutzig zu machen. Er<lb/> behauptet nämlich in bnarem Ernst und er behauptet es als allgemeine Re¬<lb/> gel, dem Studenten stehe die Wahl des Staats und der Reiigionöpartei frei,<lb/> der er fortan angehören wolle. Also ans der Sphäre der Substanzialität sind<lb/> wir in den wildesten Individualismus gerathen. Thatsächlich läßt sich freilich<lb/> für diese Behauptung in Deutschland leider viel anführen, denn für sehr viele<lb/> Deutsche würde die Frage, ob sie überhaupt zu einem Staat gehören, schwer<lb/> zu beantworten sein. Aber Erdmunn hält j'a seine Vorlesungen in Preußen,<lb/> einem Staat, dem er selber viel schone Dinge nachsagt, und da ist eS doch<lb/> wol unglaublich, daß man ein Verhältniß, Das im einzelnen Fall entschuldigt<lb/> werden kann, gradezu zur Norm stempelt. Ist der Studirende denn wirklich<lb/> in diesem Sinn frei? muß er erst mit sich zu Rathe gehen, ob er in dem<lb/> Verbände, in dem er geboren und aufgewachsen ist, auch wirklich bleiben,<lb/> ihn> seine Kräfte weihen will/-! Uns wenigstens geht dieser Liberalismus zu<lb/> weit, und wir bekennen uns ihm gegenüber als reactionär; wir halten es<lb/> für Pflicht, innerhalb der sittlichen Gemeinschaft zu wirken, die wir nicht ge¬<lb/> wählt haben, sondern an die uns daS Schicksal oder die Vorsehung gewiesen<lb/> hat. Und dieses Princip steht bei Erdmann nicht isolirt, in ihm verknüpfen<lb/> sich vielmehr alle Fäden seiner Gedanken. Die Art und Weise, wie er die<lb/> neuen politischen Zustände.seines Vaterlandes schildert z. B. 126—/i0 ist von<lb/> dem Vorwurf arger Frivolität nicht frei zu sprechen. Wir erkennen den Stand¬<lb/> punkt, der in der constitutionellen Verfassung einen Abweg von der echten<lb/> preußischen Entwicklung sieht, obgleich wir ihn bekämpfen, als vollkommen<lb/> berechtigt an; aber auf diesem Standpunkt steht.Erdmann nicht. Er läßt sich<lb/> die constitutionelle Verfassung gefallen, wie jeder andere, und bemüht sich nur,<lb/> den jungen Studirenden, die er grade an eine ernste und tiefe Auffassung<lb/> der sittlichen Zustände gewöhnen sollte, dieselbe in ihrer vermeintlichen Lächer¬<lb/> lichkeit blos zu stellen, alle seine Lehren gehen auf das berlinische*: „laßt<lb/> euch nicht verblüffen!" heraus. Indem er auf die Witze aufmerksam<lb/> macht, mit denen die Deputirten einander cWNlsiren, zieht er daraus den<lb/> Schluß, das gesammte Verfassungöleben sei eine Windbeutelei, ohne daran<lb/> zu denken, baß er in demselben Augenblick viel ärger sündigt als die Männer,<lb/> die er verklagt. Wenn Herr von Gerlach in der Kammer mitunter einen Witz<lb/> macht, der nicht zur Sache gehört, so thut er es vor Ebenbürtigen, vor<lb/> Männern, die zwischen Scherz und Ernst sehr wohl zu unterscheiden wissen, Erd¬<lb/> mann dagegen thut es-vor Jünglingen, die nach seiner eignen Erklärung in<lb/> ihrer Bildung noch nicht fertig sind, die seiner frivolen Lebensauffassung noch</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0514]
den wir nirgend so unumwunden ausgesprochen, als in diesen Vorlesungen
des angeblich reactionären Professors.
Schon das Princip, das er an die Spitze seiner Untersuchungen stellt,
ist von der, Art, selbst den rücksichtslosesten Liberalen stutzig zu machen. Er
behauptet nämlich in bnarem Ernst und er behauptet es als allgemeine Re¬
gel, dem Studenten stehe die Wahl des Staats und der Reiigionöpartei frei,
der er fortan angehören wolle. Also ans der Sphäre der Substanzialität sind
wir in den wildesten Individualismus gerathen. Thatsächlich läßt sich freilich
für diese Behauptung in Deutschland leider viel anführen, denn für sehr viele
Deutsche würde die Frage, ob sie überhaupt zu einem Staat gehören, schwer
zu beantworten sein. Aber Erdmunn hält j'a seine Vorlesungen in Preußen,
einem Staat, dem er selber viel schone Dinge nachsagt, und da ist eS doch
wol unglaublich, daß man ein Verhältniß, Das im einzelnen Fall entschuldigt
werden kann, gradezu zur Norm stempelt. Ist der Studirende denn wirklich
in diesem Sinn frei? muß er erst mit sich zu Rathe gehen, ob er in dem
Verbände, in dem er geboren und aufgewachsen ist, auch wirklich bleiben,
ihn> seine Kräfte weihen will/-! Uns wenigstens geht dieser Liberalismus zu
weit, und wir bekennen uns ihm gegenüber als reactionär; wir halten es
für Pflicht, innerhalb der sittlichen Gemeinschaft zu wirken, die wir nicht ge¬
wählt haben, sondern an die uns daS Schicksal oder die Vorsehung gewiesen
hat. Und dieses Princip steht bei Erdmann nicht isolirt, in ihm verknüpfen
sich vielmehr alle Fäden seiner Gedanken. Die Art und Weise, wie er die
neuen politischen Zustände.seines Vaterlandes schildert z. B. 126—/i0 ist von
dem Vorwurf arger Frivolität nicht frei zu sprechen. Wir erkennen den Stand¬
punkt, der in der constitutionellen Verfassung einen Abweg von der echten
preußischen Entwicklung sieht, obgleich wir ihn bekämpfen, als vollkommen
berechtigt an; aber auf diesem Standpunkt steht.Erdmann nicht. Er läßt sich
die constitutionelle Verfassung gefallen, wie jeder andere, und bemüht sich nur,
den jungen Studirenden, die er grade an eine ernste und tiefe Auffassung
der sittlichen Zustände gewöhnen sollte, dieselbe in ihrer vermeintlichen Lächer¬
lichkeit blos zu stellen, alle seine Lehren gehen auf das berlinische*: „laßt
euch nicht verblüffen!" heraus. Indem er auf die Witze aufmerksam
macht, mit denen die Deputirten einander cWNlsiren, zieht er daraus den
Schluß, das gesammte Verfassungöleben sei eine Windbeutelei, ohne daran
zu denken, baß er in demselben Augenblick viel ärger sündigt als die Männer,
die er verklagt. Wenn Herr von Gerlach in der Kammer mitunter einen Witz
macht, der nicht zur Sache gehört, so thut er es vor Ebenbürtigen, vor
Männern, die zwischen Scherz und Ernst sehr wohl zu unterscheiden wissen, Erd¬
mann dagegen thut es-vor Jünglingen, die nach seiner eignen Erklärung in
ihrer Bildung noch nicht fertig sind, die seiner frivolen Lebensauffassung noch
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