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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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ohne dem Buch zu schaden, ruhig weggeschnitten werden, und das Ganze
würde einen viel bessern Eindruck machen. Wenn der Verfasser harmlos be¬
schreibt, ist er durchweg sehr unterhaltend. Das Familienleben der Pfälzer
z', B. ist, obgleich er keine große Vorliebe für sie hat, sogar gemüthlich ge¬
schildert. Die Baulichkeiten, sowol die alten wie die neuen, treten dem
Leser lebendig vors Auge, man sieht die lang hingestreckten Dörfer am Ab¬
hang oder am Ufer eines frühern Gewässers naturgemäß entsteh"; man freut
sich an den monumental ausgeführte" Thoren und Kellerhälsen, an der Symbolik
des Brots und des Weins, um die sich das ganze Leben der Pfalz bewegt;
man studirt an den dialektischen Eigenthümlichkeiten unter der Leitung des
Reisenden die hervorspringenden Seiten des Volkscharakters; man versinnlicht
sich an dem einzelnen Beispiel den Nutzen und die Bedeutung der Volks¬
tracht und läßt sich auch die culinarischer Studien wohl gefallen, die Bewegung
der frankfurter Würste und der dänischen Knötel, wenn auch die höchste Er¬
rungenschaft der pfälzer Küche, die Bratensauce, nur einen dürftigen Begriff
von ihrer Productivitä't gibt.

Da wir nun die Manier deS Schriftstellers getadelt haben, und doch sei¬
nem Bemühn, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, die Berech¬
tigung nicht versagen können, so sei uns erlaubt, auf einen Schriftsteller hin¬
zuweisen, der das Ideal, welches nicht vorschwebt, im vollsten Maß erreicht
hat, und uns insgesammt als lehrreiches Vorbild dienen kann. Wir meinen
Goethe, nicht Goethe den Dichter, sondern Goethe den Reisebeschreiber und
den wissenschaftlichen Schriftsteller. Was seine Dichtungen betrifft, so wird
das Gefühl, daß sie die höchste Bewunderung verdienen, ebenso allgemein sein
als das zweite, daß man sie nicht nachahmen kann, nicht wegen der Höhe,
die sie erreicht haben, sondern wegen ihrer ganz individuellen Form. Aus dem
Studium Shakespeares ist in der dramatischen Dichtung vieles Bedeutende
hervorgegangen, das Vorbild deö Faust, deS Meister, des Tasso hat nur
Fratzen hervorgerufen, weil Goethe, obgleich er für seine Stimmungen, Em¬
pfindungen, Gedanken, stets die objective d. h. die sachgemäße Form fand, in
seinem Inhalt durchaus subjectiv war. Anders ist es in seinen prosaischen
Schriften, deren Studium hoffentlich jetzt erst recht anfangen wird. Sie ge¬
hören nicht blos zu den ersten Leistungen Deutschlands, sondern sie lassen sich
auch, einzelne Wunderlichkeiten abgerechnet, für jede Gattung deS Stils als
Vorbild ausstellen.. Der Geschichtschreiber kann aus ihnen lernen, wie man
erzählen, der Philosoph, wie man einen verwickelten Gedanken deutlich machen,
der Physiker, wie man ein Phänomen klar vor die Augen bringen kann.
In allen diesen Gattungen ist Goethe Meister, nirgend aber in .dem Grade,
wie in den Reisebildern. Hier verleugnet er seine Persönlichkeit ganz, man
hat es nur mit der Sache zu thun. Mit seinem wunderbaren Auge sieht


ohne dem Buch zu schaden, ruhig weggeschnitten werden, und das Ganze
würde einen viel bessern Eindruck machen. Wenn der Verfasser harmlos be¬
schreibt, ist er durchweg sehr unterhaltend. Das Familienleben der Pfälzer
z', B. ist, obgleich er keine große Vorliebe für sie hat, sogar gemüthlich ge¬
schildert. Die Baulichkeiten, sowol die alten wie die neuen, treten dem
Leser lebendig vors Auge, man sieht die lang hingestreckten Dörfer am Ab¬
hang oder am Ufer eines frühern Gewässers naturgemäß entsteh«; man freut
sich an den monumental ausgeführte» Thoren und Kellerhälsen, an der Symbolik
des Brots und des Weins, um die sich das ganze Leben der Pfalz bewegt;
man studirt an den dialektischen Eigenthümlichkeiten unter der Leitung des
Reisenden die hervorspringenden Seiten des Volkscharakters; man versinnlicht
sich an dem einzelnen Beispiel den Nutzen und die Bedeutung der Volks¬
tracht und läßt sich auch die culinarischer Studien wohl gefallen, die Bewegung
der frankfurter Würste und der dänischen Knötel, wenn auch die höchste Er¬
rungenschaft der pfälzer Küche, die Bratensauce, nur einen dürftigen Begriff
von ihrer Productivitä't gibt.

Da wir nun die Manier deS Schriftstellers getadelt haben, und doch sei¬
nem Bemühn, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, die Berech¬
tigung nicht versagen können, so sei uns erlaubt, auf einen Schriftsteller hin¬
zuweisen, der das Ideal, welches nicht vorschwebt, im vollsten Maß erreicht
hat, und uns insgesammt als lehrreiches Vorbild dienen kann. Wir meinen
Goethe, nicht Goethe den Dichter, sondern Goethe den Reisebeschreiber und
den wissenschaftlichen Schriftsteller. Was seine Dichtungen betrifft, so wird
das Gefühl, daß sie die höchste Bewunderung verdienen, ebenso allgemein sein
als das zweite, daß man sie nicht nachahmen kann, nicht wegen der Höhe,
die sie erreicht haben, sondern wegen ihrer ganz individuellen Form. Aus dem
Studium Shakespeares ist in der dramatischen Dichtung vieles Bedeutende
hervorgegangen, das Vorbild deö Faust, deS Meister, des Tasso hat nur
Fratzen hervorgerufen, weil Goethe, obgleich er für seine Stimmungen, Em¬
pfindungen, Gedanken, stets die objective d. h. die sachgemäße Form fand, in
seinem Inhalt durchaus subjectiv war. Anders ist es in seinen prosaischen
Schriften, deren Studium hoffentlich jetzt erst recht anfangen wird. Sie ge¬
hören nicht blos zu den ersten Leistungen Deutschlands, sondern sie lassen sich
auch, einzelne Wunderlichkeiten abgerechnet, für jede Gattung deS Stils als
Vorbild ausstellen.. Der Geschichtschreiber kann aus ihnen lernen, wie man
erzählen, der Philosoph, wie man einen verwickelten Gedanken deutlich machen,
der Physiker, wie man ein Phänomen klar vor die Augen bringen kann.
In allen diesen Gattungen ist Goethe Meister, nirgend aber in .dem Grade,
wie in den Reisebildern. Hier verleugnet er seine Persönlichkeit ganz, man
hat es nur mit der Sache zu thun. Mit seinem wunderbaren Auge sieht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/510>, abgerufen am 23.07.2024.