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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Skandalen wurden von den Liberalen als Beweise gegen die Behauptungen
der Klerikalen aufgezählt und von der Presse allenthalben geschäftig verbreitet.
Kaum dürfte jemals das Ansehen der Kirche auf der belgischen Tribüne
härteren Anfechtungen ausgesetzt gewesen, kaum jemals der unversöhnliche
Zwiespalt zwischen dem modernen Staatsrecht und dem römisch-katholischen
System deutlicher hervorgetreten, lauter und rücksichtsloser verkündigt worden
sein, als in diesen stürmischen Tagen. Die Leidenschaft, mit welcher in der
Kammer gekämpft wurde und die Aufregung der Geister außerhalb der Kammer
wurde verstärkt durch ein Rundschreiben deS Bischofs von Gent, welches Er¬
kundigungen über die gegenwärtigen Besitzer von Nationalgütern anordnete,
durch die Hartnäckigkeit und Dreistigkeit, womit die'Klerikalen die von ihren
Gegnern mitgetheilten Thatsachen ableugneten, durch mancherlei persönliche
Reibungen und durch wiederholte rücksichtslose Räumung der Galerien. Am
18. Mai gaben zwei Vorschläge ti>sen Kämpfen endlich die Wendung auf ein
bestimmtes Ziel. Der klerikal gesinnte Graf und Erministcr de Theur wollte
die Vorfrage über die dem König zustehende Befugniß, milde Anstalten mit
Spccialvcrwallung zu gestatten, zur Entscheidung gebracht wissen. Frere da¬
gegen, Mitglied der Linken, beantragte Einstellung der Verhandlung, damit
eine genauere Untersuchung des gesammten Armenwesens vorgenommen werden
könnte. Die Negierung bekämpfte den fröreschen Vorschlag, indem sie darin
nur eine verhüllte Beseitigung des Gesetzes sehen wollte, und erklärte sich für
den Antrag des Grafen. Da dieser jedoch aus formellen Gründen auf¬
gegeben werden mußte, so entschied sich die Kammer, nachdem sie den fröreschen
Antrag mit 60 gegen 45 Stimmen verworfen, gleich zur Berathung der ein¬
zelnen Artikel des Gesetzes überzugehen und mit Artikel 71 und 78 als den
streitigsten Punkten-zu beginnen.

Nothomb hatte sein Gesetz mit mehr Hitze als Geschick vertheidigt. Die
beiden bedeutendsten Capacitäten des Cabinets, de Decke,, Minister des Innern,
und Graf Vilain XIV., Vorstand des Departements des Auswärtigen, die
jetzt erst auftraten, haben sich das Lob erworben, mit Umsicht und Mäßigung
zum Schutze der Maßregel gesprochen zu haben. Der erstere hielt sich durch¬
aus in den Grenzen des Themas, daß das Wohlthätigkeitsgesetz lediglich dem
Grundsatz der persönlichen Freiheit huldige und daß dadurch der Ueberwachung
der socialen Interessen durch den Staat kein Eintrag geschehe. Der Minister
des Auswärtigen seinerseits suchte die Vorlage zu rechtfertigen, indem er
sie als im Einklang befindlich mit seiner Ansicht von der Nothwendigkeit, die
Staatswirksamkeit zu decentralisiren darzustellen bemüht war. Von den übrigen
Mitgliedern des Cabinets betheiligte sich keines an der Debatte, doch war be¬
kannt, daß sie die Ansichten Nothombs theilten.

Ein Vergleich der Reden de Denkers und Vilains XIV. mit den die Ruck-


Skandalen wurden von den Liberalen als Beweise gegen die Behauptungen
der Klerikalen aufgezählt und von der Presse allenthalben geschäftig verbreitet.
Kaum dürfte jemals das Ansehen der Kirche auf der belgischen Tribüne
härteren Anfechtungen ausgesetzt gewesen, kaum jemals der unversöhnliche
Zwiespalt zwischen dem modernen Staatsrecht und dem römisch-katholischen
System deutlicher hervorgetreten, lauter und rücksichtsloser verkündigt worden
sein, als in diesen stürmischen Tagen. Die Leidenschaft, mit welcher in der
Kammer gekämpft wurde und die Aufregung der Geister außerhalb der Kammer
wurde verstärkt durch ein Rundschreiben deS Bischofs von Gent, welches Er¬
kundigungen über die gegenwärtigen Besitzer von Nationalgütern anordnete,
durch die Hartnäckigkeit und Dreistigkeit, womit die'Klerikalen die von ihren
Gegnern mitgetheilten Thatsachen ableugneten, durch mancherlei persönliche
Reibungen und durch wiederholte rücksichtslose Räumung der Galerien. Am
18. Mai gaben zwei Vorschläge ti>sen Kämpfen endlich die Wendung auf ein
bestimmtes Ziel. Der klerikal gesinnte Graf und Erministcr de Theur wollte
die Vorfrage über die dem König zustehende Befugniß, milde Anstalten mit
Spccialvcrwallung zu gestatten, zur Entscheidung gebracht wissen. Frere da¬
gegen, Mitglied der Linken, beantragte Einstellung der Verhandlung, damit
eine genauere Untersuchung des gesammten Armenwesens vorgenommen werden
könnte. Die Negierung bekämpfte den fröreschen Vorschlag, indem sie darin
nur eine verhüllte Beseitigung des Gesetzes sehen wollte, und erklärte sich für
den Antrag des Grafen. Da dieser jedoch aus formellen Gründen auf¬
gegeben werden mußte, so entschied sich die Kammer, nachdem sie den fröreschen
Antrag mit 60 gegen 45 Stimmen verworfen, gleich zur Berathung der ein¬
zelnen Artikel des Gesetzes überzugehen und mit Artikel 71 und 78 als den
streitigsten Punkten-zu beginnen.

Nothomb hatte sein Gesetz mit mehr Hitze als Geschick vertheidigt. Die
beiden bedeutendsten Capacitäten des Cabinets, de Decke,, Minister des Innern,
und Graf Vilain XIV., Vorstand des Departements des Auswärtigen, die
jetzt erst auftraten, haben sich das Lob erworben, mit Umsicht und Mäßigung
zum Schutze der Maßregel gesprochen zu haben. Der erstere hielt sich durch¬
aus in den Grenzen des Themas, daß das Wohlthätigkeitsgesetz lediglich dem
Grundsatz der persönlichen Freiheit huldige und daß dadurch der Ueberwachung
der socialen Interessen durch den Staat kein Eintrag geschehe. Der Minister
des Auswärtigen seinerseits suchte die Vorlage zu rechtfertigen, indem er
sie als im Einklang befindlich mit seiner Ansicht von der Nothwendigkeit, die
Staatswirksamkeit zu decentralisiren darzustellen bemüht war. Von den übrigen
Mitgliedern des Cabinets betheiligte sich keines an der Debatte, doch war be¬
kannt, daß sie die Ansichten Nothombs theilten.

Ein Vergleich der Reden de Denkers und Vilains XIV. mit den die Ruck-


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[0501] Skandalen wurden von den Liberalen als Beweise gegen die Behauptungen der Klerikalen aufgezählt und von der Presse allenthalben geschäftig verbreitet. Kaum dürfte jemals das Ansehen der Kirche auf der belgischen Tribüne härteren Anfechtungen ausgesetzt gewesen, kaum jemals der unversöhnliche Zwiespalt zwischen dem modernen Staatsrecht und dem römisch-katholischen System deutlicher hervorgetreten, lauter und rücksichtsloser verkündigt worden sein, als in diesen stürmischen Tagen. Die Leidenschaft, mit welcher in der Kammer gekämpft wurde und die Aufregung der Geister außerhalb der Kammer wurde verstärkt durch ein Rundschreiben deS Bischofs von Gent, welches Er¬ kundigungen über die gegenwärtigen Besitzer von Nationalgütern anordnete, durch die Hartnäckigkeit und Dreistigkeit, womit die'Klerikalen die von ihren Gegnern mitgetheilten Thatsachen ableugneten, durch mancherlei persönliche Reibungen und durch wiederholte rücksichtslose Räumung der Galerien. Am 18. Mai gaben zwei Vorschläge ti>sen Kämpfen endlich die Wendung auf ein bestimmtes Ziel. Der klerikal gesinnte Graf und Erministcr de Theur wollte die Vorfrage über die dem König zustehende Befugniß, milde Anstalten mit Spccialvcrwallung zu gestatten, zur Entscheidung gebracht wissen. Frere da¬ gegen, Mitglied der Linken, beantragte Einstellung der Verhandlung, damit eine genauere Untersuchung des gesammten Armenwesens vorgenommen werden könnte. Die Negierung bekämpfte den fröreschen Vorschlag, indem sie darin nur eine verhüllte Beseitigung des Gesetzes sehen wollte, und erklärte sich für den Antrag des Grafen. Da dieser jedoch aus formellen Gründen auf¬ gegeben werden mußte, so entschied sich die Kammer, nachdem sie den fröreschen Antrag mit 60 gegen 45 Stimmen verworfen, gleich zur Berathung der ein¬ zelnen Artikel des Gesetzes überzugehen und mit Artikel 71 und 78 als den streitigsten Punkten-zu beginnen. Nothomb hatte sein Gesetz mit mehr Hitze als Geschick vertheidigt. Die beiden bedeutendsten Capacitäten des Cabinets, de Decke,, Minister des Innern, und Graf Vilain XIV., Vorstand des Departements des Auswärtigen, die jetzt erst auftraten, haben sich das Lob erworben, mit Umsicht und Mäßigung zum Schutze der Maßregel gesprochen zu haben. Der erstere hielt sich durch¬ aus in den Grenzen des Themas, daß das Wohlthätigkeitsgesetz lediglich dem Grundsatz der persönlichen Freiheit huldige und daß dadurch der Ueberwachung der socialen Interessen durch den Staat kein Eintrag geschehe. Der Minister des Auswärtigen seinerseits suchte die Vorlage zu rechtfertigen, indem er sie als im Einklang befindlich mit seiner Ansicht von der Nothwendigkeit, die Staatswirksamkeit zu decentralisiren darzustellen bemüht war. Von den übrigen Mitgliedern des Cabinets betheiligte sich keines an der Debatte, doch war be¬ kannt, daß sie die Ansichten Nothombs theilten. Ein Vergleich der Reden de Denkers und Vilains XIV. mit den die Ruck-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/501>, abgerufen am 23.07.2024.