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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Universität Ingolstadt, um daselbst Medicin und Naturwissenschaft zu studiren,
ging von da 1783 nach Wien, erwarb 1783 zu Ingolstadt (gemeinschaftlich
mit seinem Bruder) die medicinische Doctorwürde, und fing dann an, in Mün¬
chen zu praktisiren; doch wurde er von den Leiden seiner Kranken stets so er¬
griffen, daß die weitere Verfolgung dieser Laufbahn zur Unmöglichkeit wurde.
Er legte sich seit 1786 auf daS Studium der Chemie und Mineralogie, be¬
suchte 1787 die baierischen Eisenwerke, Gruben und Hütten, und bildete sich
1788--1791 unter Werners Leitung auf der Bergakademie zu Freiberg
vollends aus. Dort lernte er auch Alexander v. Humboldt kennen. Nach
Ablauf seiner Studien folgte er 1792 seinem Bruder, der, ein sehr geschickter
Techniker, sich in ziemlich umfassende, aber verunglückte Speculationen ein¬
gelassen zu haben scheint, nach England und Schottland, besuchte die -Gruben
und mineralischen Fabriken aller Art, und schrieb in seinen Mußestunden die
Abhandlung: über Kants Deduction der praktischen Vernunft und die absolute
Blindheit der letztern, die aber erst 1809 gedruckt wurde. Auf seiner Rückkehr
nach Deutschland 1796 hielt er sich ein halbes Jahr in Hamburg und WandS-
beck auf, in vertrautem Verkehr mit Jacobi und Claudius. Dort lernte
er Schellings und Fichtes erste Schriften kennen und schrieb die "Beiträge zur
Elementarphysiologie" (1797), die in Schellings "Weltseele" (1798) sehr ehren¬
voll erwähnt wurden. Nach München zurückgekehrt (December 1796), wurde
er bald darauf Münz-' und Bergrath, und gab 1798 die naturphilosophische
Schrift: "Ueber das pythagoreische Quadrat in der Natur oder die vier Welt-
gegenden" heraus, die nicht blos von Schelling, Eschenmayer, Steffens und
Schubert enthusiastisch besprochen wurde, sondern auch Goethe (Briefwechsel
mit Schiller, 6, S. 296) "wohl behagte." Freilich äußerte Goethe später, er
erkenne wol, daß Baader ein bedentender Geist sei, aber er verstehe ihn nicht.

Aus dieser Periode haben sich mehre Briefe an Jacobi erhalten, die eine
fortlaufende Polemik gegen Kant und Newton enthalten -- beides hängt we¬
sentlich zusammen, es ist die Empörung der mystischen Synthese gegen die
wissenschaftliche Analyse. "Sie werden bald sehen, daß ich, nach der Sprache
der Herrn Aufklärer und Sophisten unserer Zeit, völlig incurabel bin, daß
ich an dem Mysticismus krank liege, daß ich ein Schwärmer, ein Narr, ja
selbst ein Christ bin." (16. Juni 1796) -- "Die beiden Aren Ihrer Philo¬
sophie, Glaube und die Priorität deS Optativs, stehen fest wie die Pole des
Weltalls, denn sie sind wirklich die Pole des Mikrokosmus oder des Menschen."
"Ich habe angefangen, die Cabbala zu studiren, und es dünkt mir, alö
sähe ich den Torso der ältesten Naturphilosophie in einer Wüste, von Schutt-
und Ameisenhaufen späterer Grübeleien überbaut. Der Verfasser des Werks
Des Lrreurg u. s. w/) muß allerdings auch hier eine reinere Quelle gefunden



*) Vergl. meine französische Literaturgeschichte seit der Nevelutw", Bd. -I.
Grnizboten IV. I3ö7. 58

Universität Ingolstadt, um daselbst Medicin und Naturwissenschaft zu studiren,
ging von da 1783 nach Wien, erwarb 1783 zu Ingolstadt (gemeinschaftlich
mit seinem Bruder) die medicinische Doctorwürde, und fing dann an, in Mün¬
chen zu praktisiren; doch wurde er von den Leiden seiner Kranken stets so er¬
griffen, daß die weitere Verfolgung dieser Laufbahn zur Unmöglichkeit wurde.
Er legte sich seit 1786 auf daS Studium der Chemie und Mineralogie, be¬
suchte 1787 die baierischen Eisenwerke, Gruben und Hütten, und bildete sich
1788—1791 unter Werners Leitung auf der Bergakademie zu Freiberg
vollends aus. Dort lernte er auch Alexander v. Humboldt kennen. Nach
Ablauf seiner Studien folgte er 1792 seinem Bruder, der, ein sehr geschickter
Techniker, sich in ziemlich umfassende, aber verunglückte Speculationen ein¬
gelassen zu haben scheint, nach England und Schottland, besuchte die -Gruben
und mineralischen Fabriken aller Art, und schrieb in seinen Mußestunden die
Abhandlung: über Kants Deduction der praktischen Vernunft und die absolute
Blindheit der letztern, die aber erst 1809 gedruckt wurde. Auf seiner Rückkehr
nach Deutschland 1796 hielt er sich ein halbes Jahr in Hamburg und WandS-
beck auf, in vertrautem Verkehr mit Jacobi und Claudius. Dort lernte
er Schellings und Fichtes erste Schriften kennen und schrieb die „Beiträge zur
Elementarphysiologie" (1797), die in Schellings „Weltseele" (1798) sehr ehren¬
voll erwähnt wurden. Nach München zurückgekehrt (December 1796), wurde
er bald darauf Münz-' und Bergrath, und gab 1798 die naturphilosophische
Schrift: „Ueber das pythagoreische Quadrat in der Natur oder die vier Welt-
gegenden" heraus, die nicht blos von Schelling, Eschenmayer, Steffens und
Schubert enthusiastisch besprochen wurde, sondern auch Goethe (Briefwechsel
mit Schiller, 6, S. 296) „wohl behagte." Freilich äußerte Goethe später, er
erkenne wol, daß Baader ein bedentender Geist sei, aber er verstehe ihn nicht.

Aus dieser Periode haben sich mehre Briefe an Jacobi erhalten, die eine
fortlaufende Polemik gegen Kant und Newton enthalten — beides hängt we¬
sentlich zusammen, es ist die Empörung der mystischen Synthese gegen die
wissenschaftliche Analyse. „Sie werden bald sehen, daß ich, nach der Sprache
der Herrn Aufklärer und Sophisten unserer Zeit, völlig incurabel bin, daß
ich an dem Mysticismus krank liege, daß ich ein Schwärmer, ein Narr, ja
selbst ein Christ bin." (16. Juni 1796) — „Die beiden Aren Ihrer Philo¬
sophie, Glaube und die Priorität deS Optativs, stehen fest wie die Pole des
Weltalls, denn sie sind wirklich die Pole des Mikrokosmus oder des Menschen."
„Ich habe angefangen, die Cabbala zu studiren, und es dünkt mir, alö
sähe ich den Torso der ältesten Naturphilosophie in einer Wüste, von Schutt-
und Ameisenhaufen späterer Grübeleien überbaut. Der Verfasser des Werks
Des Lrreurg u. s. w/) muß allerdings auch hier eine reinere Quelle gefunden



*) Vergl. meine französische Literaturgeschichte seit der Nevelutw», Bd. -I.
Grnizboten IV. I3ö7. 58
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[0465] Universität Ingolstadt, um daselbst Medicin und Naturwissenschaft zu studiren, ging von da 1783 nach Wien, erwarb 1783 zu Ingolstadt (gemeinschaftlich mit seinem Bruder) die medicinische Doctorwürde, und fing dann an, in Mün¬ chen zu praktisiren; doch wurde er von den Leiden seiner Kranken stets so er¬ griffen, daß die weitere Verfolgung dieser Laufbahn zur Unmöglichkeit wurde. Er legte sich seit 1786 auf daS Studium der Chemie und Mineralogie, be¬ suchte 1787 die baierischen Eisenwerke, Gruben und Hütten, und bildete sich 1788—1791 unter Werners Leitung auf der Bergakademie zu Freiberg vollends aus. Dort lernte er auch Alexander v. Humboldt kennen. Nach Ablauf seiner Studien folgte er 1792 seinem Bruder, der, ein sehr geschickter Techniker, sich in ziemlich umfassende, aber verunglückte Speculationen ein¬ gelassen zu haben scheint, nach England und Schottland, besuchte die -Gruben und mineralischen Fabriken aller Art, und schrieb in seinen Mußestunden die Abhandlung: über Kants Deduction der praktischen Vernunft und die absolute Blindheit der letztern, die aber erst 1809 gedruckt wurde. Auf seiner Rückkehr nach Deutschland 1796 hielt er sich ein halbes Jahr in Hamburg und WandS- beck auf, in vertrautem Verkehr mit Jacobi und Claudius. Dort lernte er Schellings und Fichtes erste Schriften kennen und schrieb die „Beiträge zur Elementarphysiologie" (1797), die in Schellings „Weltseele" (1798) sehr ehren¬ voll erwähnt wurden. Nach München zurückgekehrt (December 1796), wurde er bald darauf Münz-' und Bergrath, und gab 1798 die naturphilosophische Schrift: „Ueber das pythagoreische Quadrat in der Natur oder die vier Welt- gegenden" heraus, die nicht blos von Schelling, Eschenmayer, Steffens und Schubert enthusiastisch besprochen wurde, sondern auch Goethe (Briefwechsel mit Schiller, 6, S. 296) „wohl behagte." Freilich äußerte Goethe später, er erkenne wol, daß Baader ein bedentender Geist sei, aber er verstehe ihn nicht. Aus dieser Periode haben sich mehre Briefe an Jacobi erhalten, die eine fortlaufende Polemik gegen Kant und Newton enthalten — beides hängt we¬ sentlich zusammen, es ist die Empörung der mystischen Synthese gegen die wissenschaftliche Analyse. „Sie werden bald sehen, daß ich, nach der Sprache der Herrn Aufklärer und Sophisten unserer Zeit, völlig incurabel bin, daß ich an dem Mysticismus krank liege, daß ich ein Schwärmer, ein Narr, ja selbst ein Christ bin." (16. Juni 1796) — „Die beiden Aren Ihrer Philo¬ sophie, Glaube und die Priorität deS Optativs, stehen fest wie die Pole des Weltalls, denn sie sind wirklich die Pole des Mikrokosmus oder des Menschen." „Ich habe angefangen, die Cabbala zu studiren, und es dünkt mir, alö sähe ich den Torso der ältesten Naturphilosophie in einer Wüste, von Schutt- und Ameisenhaufen späterer Grübeleien überbaut. Der Verfasser des Werks Des Lrreurg u. s. w/) muß allerdings auch hier eine reinere Quelle gefunden *) Vergl. meine französische Literaturgeschichte seit der Nevelutw», Bd. -I. Grnizboten IV. I3ö7. 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/465>, abgerufen am 23.07.2024.