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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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sich jetzt eine andere Schwierigkeit. Die belgische Verfassung enthalt einen
Paragraphen, nach welchem die Kammern jedes Jahr am zweiten Dienstag
des November zusammentreten sollen, und es war keine leichte Aufgabe, in
der kurzen Zeit bis zu diesem Termin ein neues Cabinet zu bilden. Der
König wandte sich zunächst an den Führer der liberalen Opposition, Rogier.
Der Name dieses Staatsmannes hat in Belgien einen guten Klang. Er hals
mit den Waffen in der Hand dem Unabhängigkeitskampf zum Siege werden,
war Mitglied der provisorischen Regierung, in welcher er gegen die Republi¬
kaner die Entscheidung für die constitutionelle Monarchie wenden half, war
in der Folgezeit wiederholt an der Spitze der Verwaltung,^schuf die belgischen
Eisenbahnen, trug durch verschiedene andere Maßregeln zu Hebung deS tief-
gesunkcnen Wohlstandes des Landes bei und hielt die Revolution von
den Grenzen Belgiens ab. Er war unzweifelhaft der rechte Mann für die
Situation. Da er indeß, einsehend, daß er mit einer Kammer, in der seine
Partei sich in der Minorität befand, nicht regieren könne, Auflösung der
gegenwärtigen Volksvertretung zur Bedingung der Annahme des ihm angetra¬
genen Postens machte, der König aber zunächst noch Bedenken trug, bei der
herrschenden Aufregung Neuwahlen eintreten zu lassen, die unter diesen Um¬
ständen ein der wahren Meinung der Nation nicht völlig entsprechendes Er¬
gebniß haben konnten, so ging der Monarch auf die Bedingungen Rogiers
vorläufig nicht ein, sondern ließ den ehemaligen Minister deS Auswärtigen
Henry de Brouckere zu sich bescheiden, der ebenfalls der liberalen Partei
angehört, aber eine weniger strenge Natur als Rogier ist und darum die
Möglichkeit bot, es mit dem Zwischenmittel eines gemischten Ministeriums,
bestehend in>s gemäßigten Männern beider Parteien, zu versuchen. De
Brouckere lehnte das Anerbieten ab, vermuthlich, weil ihm die Dinge nicht
darnach angethan schienen, diese Mittelstraße einzuschlagen. Der König wollte
noch einen letzten Vermittlungsversuch machen. Wie er sich in de Brouckere
an das linke Centrum gewendet, so wendete er sich nun an das rechte. Er rief
De Decker nochmals zu sich und suchte ihn zu vermögen, seinen Einfluß bei
der eigenen Partei aufzubieten, um die Zurückziehung des WohlthätigkeitSgesetzeS
durchzusetzen. Der betreffende Minister scheint seinen Einfluß für nicht mäch¬
tig genug gehalten zu haben, er beharrte bei seinem Entschluß, abzutreten.
Jetzt erst wurde Rogier unter Gewährung seiner oben erwähnten Bedingung
definitiv mit der Bildung eines neuen Cabinets beauftragt, und er nahm
seine Amtsgenossen, wie erwartet, sämmtlich aus den Reihen der entschiedenen
Liberalen. Schon am nächsten Tage mußte er, um der Vorschrift der Ver¬
fassung zu genügen, die Kammern eröffnen, es geschah dies aber nur, um ihre
Auflösung zu verlesen.

Damit endete der zweite Act des Schauspiels. Die Wahlen, aus die sich


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sich jetzt eine andere Schwierigkeit. Die belgische Verfassung enthalt einen
Paragraphen, nach welchem die Kammern jedes Jahr am zweiten Dienstag
des November zusammentreten sollen, und es war keine leichte Aufgabe, in
der kurzen Zeit bis zu diesem Termin ein neues Cabinet zu bilden. Der
König wandte sich zunächst an den Führer der liberalen Opposition, Rogier.
Der Name dieses Staatsmannes hat in Belgien einen guten Klang. Er hals
mit den Waffen in der Hand dem Unabhängigkeitskampf zum Siege werden,
war Mitglied der provisorischen Regierung, in welcher er gegen die Republi¬
kaner die Entscheidung für die constitutionelle Monarchie wenden half, war
in der Folgezeit wiederholt an der Spitze der Verwaltung,^schuf die belgischen
Eisenbahnen, trug durch verschiedene andere Maßregeln zu Hebung deS tief-
gesunkcnen Wohlstandes des Landes bei und hielt die Revolution von
den Grenzen Belgiens ab. Er war unzweifelhaft der rechte Mann für die
Situation. Da er indeß, einsehend, daß er mit einer Kammer, in der seine
Partei sich in der Minorität befand, nicht regieren könne, Auflösung der
gegenwärtigen Volksvertretung zur Bedingung der Annahme des ihm angetra¬
genen Postens machte, der König aber zunächst noch Bedenken trug, bei der
herrschenden Aufregung Neuwahlen eintreten zu lassen, die unter diesen Um¬
ständen ein der wahren Meinung der Nation nicht völlig entsprechendes Er¬
gebniß haben konnten, so ging der Monarch auf die Bedingungen Rogiers
vorläufig nicht ein, sondern ließ den ehemaligen Minister deS Auswärtigen
Henry de Brouckere zu sich bescheiden, der ebenfalls der liberalen Partei
angehört, aber eine weniger strenge Natur als Rogier ist und darum die
Möglichkeit bot, es mit dem Zwischenmittel eines gemischten Ministeriums,
bestehend in>s gemäßigten Männern beider Parteien, zu versuchen. De
Brouckere lehnte das Anerbieten ab, vermuthlich, weil ihm die Dinge nicht
darnach angethan schienen, diese Mittelstraße einzuschlagen. Der König wollte
noch einen letzten Vermittlungsversuch machen. Wie er sich in de Brouckere
an das linke Centrum gewendet, so wendete er sich nun an das rechte. Er rief
De Decker nochmals zu sich und suchte ihn zu vermögen, seinen Einfluß bei
der eigenen Partei aufzubieten, um die Zurückziehung des WohlthätigkeitSgesetzeS
durchzusetzen. Der betreffende Minister scheint seinen Einfluß für nicht mäch¬
tig genug gehalten zu haben, er beharrte bei seinem Entschluß, abzutreten.
Jetzt erst wurde Rogier unter Gewährung seiner oben erwähnten Bedingung
definitiv mit der Bildung eines neuen Cabinets beauftragt, und er nahm
seine Amtsgenossen, wie erwartet, sämmtlich aus den Reihen der entschiedenen
Liberalen. Schon am nächsten Tage mußte er, um der Vorschrift der Ver¬
fassung zu genügen, die Kammern eröffnen, es geschah dies aber nur, um ihre
Auflösung zu verlesen.

Damit endete der zweite Act des Schauspiels. Die Wahlen, aus die sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/451>, abgerufen am 23.07.2024.