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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Strebungen der Gegenwart ernste Bedenken vor der Uberle 6<z onsrltv, welche
die Vertheidiger des Gesetzes im Munde führten, und so bot sie auf der
Tribüne wie in der Presse alle ihre Mittel zur Bekämpfung der Sache auf.
Ihre Ansicht überwog allmälig im Lande, ein großer Umschwung der öffent¬
lichen Meinung erfolgte, und mit diesem Umschwung trat jener Gegensatz zwischen
der verfassungsmäßigen Autorität der Kammern und der gesetzlos sich kundgebenden
Souveränetät des Volkes hervor, der daS belgische Staatswesen auf einige
Tage mit Zerrüttung bedrohte. Die Besonnenheit und der Takt des Monarchen
fand die vermittelnde Formel, und indem die Deputirten vorläufig nach Hause
gesandt wurden, endete der erste Act des Dramas.

Damit war das verdächtige Gesetz aber nicht beseitigt, seine Berathung
nur verschoben, die Aufregung im Lande nur von weiteren gewaltsamen Aus¬
brüchen abgehalten, nicht vollkommen beschwichtigt. ES war fast mit Gewißheit
vorauszusehen, daß die öffentliche Meinung auf der Bahn, in welche sie die
Debatten über das Wvhlthätigkeitsgesetz gebracht, nicht eher ihren Ruhepunkt
finden, die Thätigkeit der liberalen Partei, welche hier Gelegenheit sah, die
in Folge der allgemeinen Reaction verlorene Stellung am Staatsruder
wiederzugewinnen, nicht eher nachlassen würde, bis der Umschwung der
Dinge durch ein neues Ministerium und eine neue Kammer seine gesetzliche
Sanction und Ausprägung erhalten hätte. Den Anstoß hierzu gaben die
Gemeinderathswahlen, welche im vorigen Monat in ganz Belgien stattfanden
und eine so große Majorität gegen die Klerikalen ergaben, daß die beiden
bedeutendsten Mitglieder des Cabinets, De Decker und Vilain XIV., eS für
angemessen hielten, den König um ihre Entlassung zu bitten. Gemäßigt in
ihren Gesinnungen, Männer deS rechten Centrums, waren sie ihrer eignen
Partei, den Klerikalen, nicht weit genug, den Liberalen zu weit gegangen und
so von Anfang an, vorzüglich aber seil Vertagung der Kammern, in einer
schwierigen Stellung gewesen. Jetzt wurde diese Stellung unhaltbar, unhalt¬
bar wenigstens für Politiker, die abgesehen von ihrer sonstigen Parteifarbe,
aufrichtig konstitutionell gesinnt waren. Die Communalwcchlen waren ein
deutliches Zeichen der Stimmung, welche das "Klostergesetz", "Kapuziner¬
gesetz," wie das Volk das Wohlthätlgkeitögesetz nannte, im Lande hervor¬
gerufen. ES wäre dem Cabinet beim Widerzusammentritt der Kammern nur
die Wahl geblieben, sich entweder im Widerspruch mit seiner eignen Partei zu
erhalten oder das verhaßte Gesetz mit Anwendung des Belagerungszustandes zur
Anerkennung zu bringen. Das eine wollten, das andere wollten und konnten sie
nicht. Zwangsmaßregeln der gedachten Art hätte der König nicht zugegeben,
auch wären sie unter den obwaltenden Umständen nur mit fremder d. h. fran¬
zösischer Hilfe durchzusetzen gewesen. Der König nahm bei so bewandten Verhält¬
nissen das Entlassungögesuch deö Ministeriums ohne Zögern an. Indeß erhob


Strebungen der Gegenwart ernste Bedenken vor der Uberle 6<z onsrltv, welche
die Vertheidiger des Gesetzes im Munde führten, und so bot sie auf der
Tribüne wie in der Presse alle ihre Mittel zur Bekämpfung der Sache auf.
Ihre Ansicht überwog allmälig im Lande, ein großer Umschwung der öffent¬
lichen Meinung erfolgte, und mit diesem Umschwung trat jener Gegensatz zwischen
der verfassungsmäßigen Autorität der Kammern und der gesetzlos sich kundgebenden
Souveränetät des Volkes hervor, der daS belgische Staatswesen auf einige
Tage mit Zerrüttung bedrohte. Die Besonnenheit und der Takt des Monarchen
fand die vermittelnde Formel, und indem die Deputirten vorläufig nach Hause
gesandt wurden, endete der erste Act des Dramas.

Damit war das verdächtige Gesetz aber nicht beseitigt, seine Berathung
nur verschoben, die Aufregung im Lande nur von weiteren gewaltsamen Aus¬
brüchen abgehalten, nicht vollkommen beschwichtigt. ES war fast mit Gewißheit
vorauszusehen, daß die öffentliche Meinung auf der Bahn, in welche sie die
Debatten über das Wvhlthätigkeitsgesetz gebracht, nicht eher ihren Ruhepunkt
finden, die Thätigkeit der liberalen Partei, welche hier Gelegenheit sah, die
in Folge der allgemeinen Reaction verlorene Stellung am Staatsruder
wiederzugewinnen, nicht eher nachlassen würde, bis der Umschwung der
Dinge durch ein neues Ministerium und eine neue Kammer seine gesetzliche
Sanction und Ausprägung erhalten hätte. Den Anstoß hierzu gaben die
Gemeinderathswahlen, welche im vorigen Monat in ganz Belgien stattfanden
und eine so große Majorität gegen die Klerikalen ergaben, daß die beiden
bedeutendsten Mitglieder des Cabinets, De Decker und Vilain XIV., eS für
angemessen hielten, den König um ihre Entlassung zu bitten. Gemäßigt in
ihren Gesinnungen, Männer deS rechten Centrums, waren sie ihrer eignen
Partei, den Klerikalen, nicht weit genug, den Liberalen zu weit gegangen und
so von Anfang an, vorzüglich aber seil Vertagung der Kammern, in einer
schwierigen Stellung gewesen. Jetzt wurde diese Stellung unhaltbar, unhalt¬
bar wenigstens für Politiker, die abgesehen von ihrer sonstigen Parteifarbe,
aufrichtig konstitutionell gesinnt waren. Die Communalwcchlen waren ein
deutliches Zeichen der Stimmung, welche das „Klostergesetz", „Kapuziner¬
gesetz," wie das Volk das Wohlthätlgkeitögesetz nannte, im Lande hervor¬
gerufen. ES wäre dem Cabinet beim Widerzusammentritt der Kammern nur
die Wahl geblieben, sich entweder im Widerspruch mit seiner eignen Partei zu
erhalten oder das verhaßte Gesetz mit Anwendung des Belagerungszustandes zur
Anerkennung zu bringen. Das eine wollten, das andere wollten und konnten sie
nicht. Zwangsmaßregeln der gedachten Art hätte der König nicht zugegeben,
auch wären sie unter den obwaltenden Umständen nur mit fremder d. h. fran¬
zösischer Hilfe durchzusetzen gewesen. Der König nahm bei so bewandten Verhält¬
nissen das Entlassungögesuch deö Ministeriums ohne Zögern an. Indeß erhob


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/450>, abgerufen am 23.07.2024.