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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Homer und Aeschylus an bis ans Lord Byron hat die Poesie stets die Höhen
der Gesellschaft ausgesucht und in ihnen den concentrirten Ausdruck des natio¬
nalen Lebens gefunden. Unsere heutige Ritterschaft hat ein an sich richtiges
Wort, daß das Königthum und der Adel zu den schönsten Besitztümern des
gesammten Volks gehören, auf eine verkehrte Weise ausgebeutet: das gesammte
Volk freut sich des Adels, wenn es in ihm die Verkörperung seiner Ideale
steht; aber dies Behagen kann sich freilich auf das Junkerthum nicht ausdeh¬
nen, welches sich dem realen Leben deS Volks entgegensetzt. In den Zeiten
der alerandrinischen Tyrannen traten stets die Theokrite hervor.
'

Zwei Umstände sind es, die in einer überreifen zerfahrenen Cultur den
Dichter zu Entdeckungsreisen nach jenen abgelegenen Provinzen bestimmen,
die von der allgemeinen Atmosphäre noch nicht inficirt sind: daS Streben
nach einem harmonischen Dasein und daS Streben nach Eigenthümlichkeit des
Lebens. Beides fällt nicht immer zusammen, es ist sich vielmehr in seinem
innern Kern so entgegengesetzt, wie Idealismus und Realismus. Die Dich¬
ter unserer modernen Dorf- und Bürgergeschichten werden gewiß jede Verwandt¬
schaft mit der geßnerschen Schäferpoesie von sich weisen. Durchblättern wir
z. B. die Romane des beliebtesten dieser Dichter, Berthold Auerbach,
so finden wir nur sehr selten daS erfreuliche Bild eines innerlich befriedigten
Daseins; im Gegentheil zeichnet er den Verfall und die wilden Contraste des
Banernlebens in harten, fast schreienden Farben. Es ist auch nicht die eigent¬
liche Naiur, im Gegensatz zur sogenannten Convenienz, was man im Schwarz¬
wald, in der Schweiz, in den thüringischen Kleinstädter aufsucht; vielmehr ist
bei den Bauern und Kleinbürgern die Convenienz viel schroffer ausgebildet,
sie drückt die Individualitäten unter ein viel strengeres Joch als in den höhern
Lebensschichten, die sich gegenwärtig alt einer unerhörten Freiheit bewegen.
So paradox es also klingen mag, und so entschieden wir uns dagegen ver¬
wahren, auf alle Consequenzen einzugehn, die man aus unsrer Behauptung
ziehn mag: wenn das Idyll der frühern'Tage die Freiheit und Natur auf¬
suchte, die in der gesellschaftlichen Convenienz verloren gegangen war, so geht
dagegen das moderne Idyll auf die Convenienz aus, die der guten Gesell¬
schaft fehlt.

Denn früher gehörte zu den bedeutendsten Conflicten, welche die Dicht¬
kunst darstellte, der Kampf des individuellen Willens gegen die sittliche Norm
und Ueberlieferung. Wenn man den Klageliedern unserer Lyriker glaubt, so
wäre dieser Conflict jetzt schroffer als je, und in der That hat der Weltschmerz
eine ganz ungewöhnliche Breite gewonnen. Aber er entspringt nicht aus dem
drückenden Gefühl der Schranken, sondern aus dem Zerfließen aller Grenzen,
aus der Abwesenheit jener Zucht, welche die Kraft übt und ihr die Fähigkeit
der Selbstbestimmung gibt. Gehn wir die Nomanliteratur der letzten Jcchr-


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Homer und Aeschylus an bis ans Lord Byron hat die Poesie stets die Höhen
der Gesellschaft ausgesucht und in ihnen den concentrirten Ausdruck des natio¬
nalen Lebens gefunden. Unsere heutige Ritterschaft hat ein an sich richtiges
Wort, daß das Königthum und der Adel zu den schönsten Besitztümern des
gesammten Volks gehören, auf eine verkehrte Weise ausgebeutet: das gesammte
Volk freut sich des Adels, wenn es in ihm die Verkörperung seiner Ideale
steht; aber dies Behagen kann sich freilich auf das Junkerthum nicht ausdeh¬
nen, welches sich dem realen Leben deS Volks entgegensetzt. In den Zeiten
der alerandrinischen Tyrannen traten stets die Theokrite hervor.
'

Zwei Umstände sind es, die in einer überreifen zerfahrenen Cultur den
Dichter zu Entdeckungsreisen nach jenen abgelegenen Provinzen bestimmen,
die von der allgemeinen Atmosphäre noch nicht inficirt sind: daS Streben
nach einem harmonischen Dasein und daS Streben nach Eigenthümlichkeit des
Lebens. Beides fällt nicht immer zusammen, es ist sich vielmehr in seinem
innern Kern so entgegengesetzt, wie Idealismus und Realismus. Die Dich¬
ter unserer modernen Dorf- und Bürgergeschichten werden gewiß jede Verwandt¬
schaft mit der geßnerschen Schäferpoesie von sich weisen. Durchblättern wir
z. B. die Romane des beliebtesten dieser Dichter, Berthold Auerbach,
so finden wir nur sehr selten daS erfreuliche Bild eines innerlich befriedigten
Daseins; im Gegentheil zeichnet er den Verfall und die wilden Contraste des
Banernlebens in harten, fast schreienden Farben. Es ist auch nicht die eigent¬
liche Naiur, im Gegensatz zur sogenannten Convenienz, was man im Schwarz¬
wald, in der Schweiz, in den thüringischen Kleinstädter aufsucht; vielmehr ist
bei den Bauern und Kleinbürgern die Convenienz viel schroffer ausgebildet,
sie drückt die Individualitäten unter ein viel strengeres Joch als in den höhern
Lebensschichten, die sich gegenwärtig alt einer unerhörten Freiheit bewegen.
So paradox es also klingen mag, und so entschieden wir uns dagegen ver¬
wahren, auf alle Consequenzen einzugehn, die man aus unsrer Behauptung
ziehn mag: wenn das Idyll der frühern'Tage die Freiheit und Natur auf¬
suchte, die in der gesellschaftlichen Convenienz verloren gegangen war, so geht
dagegen das moderne Idyll auf die Convenienz aus, die der guten Gesell¬
schaft fehlt.

Denn früher gehörte zu den bedeutendsten Conflicten, welche die Dicht¬
kunst darstellte, der Kampf des individuellen Willens gegen die sittliche Norm
und Ueberlieferung. Wenn man den Klageliedern unserer Lyriker glaubt, so
wäre dieser Conflict jetzt schroffer als je, und in der That hat der Weltschmerz
eine ganz ungewöhnliche Breite gewonnen. Aber er entspringt nicht aus dem
drückenden Gefühl der Schranken, sondern aus dem Zerfließen aller Grenzen,
aus der Abwesenheit jener Zucht, welche die Kraft übt und ihr die Fähigkeit
der Selbstbestimmung gibt. Gehn wir die Nomanliteratur der letzten Jcchr-


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[0411] Homer und Aeschylus an bis ans Lord Byron hat die Poesie stets die Höhen der Gesellschaft ausgesucht und in ihnen den concentrirten Ausdruck des natio¬ nalen Lebens gefunden. Unsere heutige Ritterschaft hat ein an sich richtiges Wort, daß das Königthum und der Adel zu den schönsten Besitztümern des gesammten Volks gehören, auf eine verkehrte Weise ausgebeutet: das gesammte Volk freut sich des Adels, wenn es in ihm die Verkörperung seiner Ideale steht; aber dies Behagen kann sich freilich auf das Junkerthum nicht ausdeh¬ nen, welches sich dem realen Leben deS Volks entgegensetzt. In den Zeiten der alerandrinischen Tyrannen traten stets die Theokrite hervor. ' Zwei Umstände sind es, die in einer überreifen zerfahrenen Cultur den Dichter zu Entdeckungsreisen nach jenen abgelegenen Provinzen bestimmen, die von der allgemeinen Atmosphäre noch nicht inficirt sind: daS Streben nach einem harmonischen Dasein und daS Streben nach Eigenthümlichkeit des Lebens. Beides fällt nicht immer zusammen, es ist sich vielmehr in seinem innern Kern so entgegengesetzt, wie Idealismus und Realismus. Die Dich¬ ter unserer modernen Dorf- und Bürgergeschichten werden gewiß jede Verwandt¬ schaft mit der geßnerschen Schäferpoesie von sich weisen. Durchblättern wir z. B. die Romane des beliebtesten dieser Dichter, Berthold Auerbach, so finden wir nur sehr selten daS erfreuliche Bild eines innerlich befriedigten Daseins; im Gegentheil zeichnet er den Verfall und die wilden Contraste des Banernlebens in harten, fast schreienden Farben. Es ist auch nicht die eigent¬ liche Naiur, im Gegensatz zur sogenannten Convenienz, was man im Schwarz¬ wald, in der Schweiz, in den thüringischen Kleinstädter aufsucht; vielmehr ist bei den Bauern und Kleinbürgern die Convenienz viel schroffer ausgebildet, sie drückt die Individualitäten unter ein viel strengeres Joch als in den höhern Lebensschichten, die sich gegenwärtig alt einer unerhörten Freiheit bewegen. So paradox es also klingen mag, und so entschieden wir uns dagegen ver¬ wahren, auf alle Consequenzen einzugehn, die man aus unsrer Behauptung ziehn mag: wenn das Idyll der frühern'Tage die Freiheit und Natur auf¬ suchte, die in der gesellschaftlichen Convenienz verloren gegangen war, so geht dagegen das moderne Idyll auf die Convenienz aus, die der guten Gesell¬ schaft fehlt. Denn früher gehörte zu den bedeutendsten Conflicten, welche die Dicht¬ kunst darstellte, der Kampf des individuellen Willens gegen die sittliche Norm und Ueberlieferung. Wenn man den Klageliedern unserer Lyriker glaubt, so wäre dieser Conflict jetzt schroffer als je, und in der That hat der Weltschmerz eine ganz ungewöhnliche Breite gewonnen. Aber er entspringt nicht aus dem drückenden Gefühl der Schranken, sondern aus dem Zerfließen aller Grenzen, aus der Abwesenheit jener Zucht, welche die Kraft übt und ihr die Fähigkeit der Selbstbestimmung gibt. Gehn wir die Nomanliteratur der letzten Jcchr- 51*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/411>, abgerufen am 23.07.2024.