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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Wenn mein bis dahin die hegelsche Philosophie in Beziehung auf den
Staat wie auf die Kirche für konservativ gehalten, wenn man angenommen
hatte, daß sie die größte Achtung vor dem Bestehenden mit der freisten Auf¬
klärung vereinigte, >so wurde man in der Mitte der dreißiger Jahre durch
Strauß und die Jahrbücher auf eine seltsame Weise enttäuscht. Aus der
Mitte der Schule ging eine revolutionäre Richtung hervor, die sich in die bis¬
herigen staatlichen und kirchlichen Existenzen viel stärkere Eingriffe erlaubte,
alö der alte Rationalismus und Liberalismus. Bisher ein Hort des Be¬
stehenden, pflanzte die hegelsche Philosophie plötzlich die Fahne der Empörung
auf, auch dies Mal mit dem allen Selbstgefühl. Denn hatte die alte Opposition
gegen die Uebermacht des Bestehenden nur heimlich mit den Zähnen geknirscht,
so lächelte die neue mitleidig über den zurückgebliebenen Standpunkt, der im
Reich der Idee d. h. nach Hegel in der echten Wirklichkeit längst überwunden
sei. Weit entfernt durch diese Wendung an ihrem Einfluß etwas einzubüßrn,
trat die hegelsche Philosophie jetzt erst recht in den Kreis der Lebensmächte
ein. Selbst die deutschkatholischen Prediger spielten auf die TranScendenj
und Immanenz an, und die Poeten ergingen sich im apvkalvplischen Visionen
über die Jakobsleiter der absoluten Kntegorien.

Diese Herrschaft der hegclschen Philosophie hat seit -1848 aufgehört,
Weder im conservativen noch im oppositionellen Lager hört man die Stich-
worte des absoluten Idealismus. Die alten Professoren, die i über die
Paragraphen des Systems nicht hinaus können, vereinsamen in ihren Hör-
sälen. Die Kunst entsagt dem Ideal und sucht sich realistisch mit der Wirk¬
lichkeit zu verständigen, und mit ihr im besten Einverständniß schütteln die
Wissenschaften das Joch der Formel ab und greifen nach der alten Rüstkammer,
um auf ihre eigene Weise das Wahre zu entdecken und darzustellen. Allen
übrige" voraus bemühen sich die Physik und die Geschichte, was sie entdeckt
haben auch der Menge zugänglich zu machen, aber ihre Entdeckungen gehen
nicht mehr aus der Construction, sondern aus der Beobachtung und Analyse
hervor.

Die Wahrheit und der Umfang dieser Thatsachen läßt sich nicht mehr ">
Abrede stellen, und statt sich gegen das Unvermeidliche zu sträuben, fällt den
Freunden und Verehrern Hegels, die sehr wohl wissen, was sie ihm verdanken,
die Aufgabe zu, sich klar zu machen wie viel von den geistigen Schätzen ihrer
Philosophie noch als el" sicherer Besitz angesehn werden kann, was sie aus
die öffentliche Cultur für einen Einfluß ausgeübt hat und wie ihre Ent¬
stehung, ihre Herrschaft und ihr Untergang zu begreifen ist. Eine solche
Untersuchung ist ganz im Geist Hegels, der die frühern Systeme genau
derselben Analyse unterworfen hat. Sie ist auch fruchtbar für da
Verständniß unserer Bildung im Allgemeinen, denn wenn sie zu dem


Wenn mein bis dahin die hegelsche Philosophie in Beziehung auf den
Staat wie auf die Kirche für konservativ gehalten, wenn man angenommen
hatte, daß sie die größte Achtung vor dem Bestehenden mit der freisten Auf¬
klärung vereinigte, >so wurde man in der Mitte der dreißiger Jahre durch
Strauß und die Jahrbücher auf eine seltsame Weise enttäuscht. Aus der
Mitte der Schule ging eine revolutionäre Richtung hervor, die sich in die bis¬
herigen staatlichen und kirchlichen Existenzen viel stärkere Eingriffe erlaubte,
alö der alte Rationalismus und Liberalismus. Bisher ein Hort des Be¬
stehenden, pflanzte die hegelsche Philosophie plötzlich die Fahne der Empörung
auf, auch dies Mal mit dem allen Selbstgefühl. Denn hatte die alte Opposition
gegen die Uebermacht des Bestehenden nur heimlich mit den Zähnen geknirscht,
so lächelte die neue mitleidig über den zurückgebliebenen Standpunkt, der im
Reich der Idee d. h. nach Hegel in der echten Wirklichkeit längst überwunden
sei. Weit entfernt durch diese Wendung an ihrem Einfluß etwas einzubüßrn,
trat die hegelsche Philosophie jetzt erst recht in den Kreis der Lebensmächte
ein. Selbst die deutschkatholischen Prediger spielten auf die TranScendenj
und Immanenz an, und die Poeten ergingen sich im apvkalvplischen Visionen
über die Jakobsleiter der absoluten Kntegorien.

Diese Herrschaft der hegclschen Philosophie hat seit -1848 aufgehört,
Weder im conservativen noch im oppositionellen Lager hört man die Stich-
worte des absoluten Idealismus. Die alten Professoren, die i über die
Paragraphen des Systems nicht hinaus können, vereinsamen in ihren Hör-
sälen. Die Kunst entsagt dem Ideal und sucht sich realistisch mit der Wirk¬
lichkeit zu verständigen, und mit ihr im besten Einverständniß schütteln die
Wissenschaften das Joch der Formel ab und greifen nach der alten Rüstkammer,
um auf ihre eigene Weise das Wahre zu entdecken und darzustellen. Allen
übrige» voraus bemühen sich die Physik und die Geschichte, was sie entdeckt
haben auch der Menge zugänglich zu machen, aber ihre Entdeckungen gehen
nicht mehr aus der Construction, sondern aus der Beobachtung und Analyse
hervor.

Die Wahrheit und der Umfang dieser Thatsachen läßt sich nicht mehr »>
Abrede stellen, und statt sich gegen das Unvermeidliche zu sträuben, fällt den
Freunden und Verehrern Hegels, die sehr wohl wissen, was sie ihm verdanken,
die Aufgabe zu, sich klar zu machen wie viel von den geistigen Schätzen ihrer
Philosophie noch als el» sicherer Besitz angesehn werden kann, was sie aus
die öffentliche Cultur für einen Einfluß ausgeübt hat und wie ihre Ent¬
stehung, ihre Herrschaft und ihr Untergang zu begreifen ist. Eine solche
Untersuchung ist ganz im Geist Hegels, der die frühern Systeme genau
derselben Analyse unterworfen hat. Sie ist auch fruchtbar für da
Verständniß unserer Bildung im Allgemeinen, denn wenn sie zu dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/370>, abgerufen am 23.07.2024.