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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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aber keine Machtvollkommenheit verleihe. Sir Colin Campbell, der alte tapfre
schottische Haudegen kam an; er war bekanntlich von heute auf morgen von
England abgereist, um desto rascher in die Begebenheiten eingreifen zu können.
Aber in Kalkutta war man anderer Ansicht; der General hatte in der Eile
nicht alle erforderlichen Papiere mitgebracht, und so mußte er die nächste Post
von Europa abwarten, um seine Stelle antreten zu können. Seitdem hört
man gar nichts mehr vom Oberbefehlshaber, aber wol, daß englische Truppen
angekommen raren, die man mehre Tage ruhig noch auf den Schiffen ließ,
angeblich weil für alle von Europa erwarteten Truppen noch kein Quartier
gemacht sei, als wenn das nicht eine doppelte Veranlassung gegeben hätte,
die bereits angelangten rasch ins Innere zu erpediren. Ohnehin war Eile durch
die andern Verhältnisse genug geboten. Wir möchten fast die Ansicht aus¬
sprechen, daß neben dem altgewohnten Schlendrian in Kalkutta die feste Ab¬
sicht vorwalte, unter allen Umständen das Supremat der Civilverwaltung vor
den Militärbehörden aufrecht zu erhallen, und doch dürfte für die nächsten
Jahre eine Militärregierung für Ostindien am angemessensten sein.

Man hat gelegentlich die Meinung ausgesprochen, das demnächstige Mit-
agiren der aus England nachgesandten Regimenter werde auch darum für die
Kriegführung von Vortheil sein, weil es der ganz wilden Grausamkeit der von
Wuth und Rachedurst gepeitschten Engländer, welche die Meuterei mit durch¬
lebt haben, ein Ende machen werde. Abgesehen nun davon, daß bereits Trup¬
pen ankämpfen, die vom Cap, von Mauritius oder von der chinesischen Er¬
pedition herbeieilten, so meinen wir doch, hat man daS Verfahren der Engländer
gewaltig übertrieben. Daß man einen so heuchlerischen und blutgierigen Feind
vernichtete, wo man konnte, daß grade die Minderzahl, in welcher die Eng¬
länder kämpfen, Schonung fast unmöglich machte, daß eine solche unter Um¬
ständen wie den jetzigen und bei einer Bevölkerung, welche Milde nur zu gern
als Schwäche auslegt, nicht einmal angebracht war, versteht sich für jeden
Vernünftigen von selbst, und nicht minder begreiflich ist, wie Wuth über er¬
littene Mißhandlungen von Weib und Kind die ErbarmungSlvsigkeit steigerte,
so daß ohne Zweifel gelegentlich ganz unnöthige Mordercesse vorgekommen
sind. Dagegen wird z. B. aus Delhi berichtet, daß man während der Beren-
nung die nicht waffentragendc Bevölkerung ruhig entwischen ließ, aber die ganze
"'änuliche Bevölkerung, die mit oder ohne Waffen noch in der Stadt angetroffen
ward, niedermachle, während die Unmasse heulender und jammernder Frauen
unbelästigt blieb -- gan; gewiß kein Verfahren unterschiedsloser Grausamkeit.
Aber die Englänverfresserei, die hie und da auch im lieben Vaterlande grassirt,
Nestel sich diesmal darin, die Engländer blutgierig und grausam zu schelten,
und daS thaten zum Theil dieselben Pseudvradicalcn, welche sonst dem
schönen Satze huldigen, Revolutionen können nicht mit Rosenwasser vollzogen


is*

aber keine Machtvollkommenheit verleihe. Sir Colin Campbell, der alte tapfre
schottische Haudegen kam an; er war bekanntlich von heute auf morgen von
England abgereist, um desto rascher in die Begebenheiten eingreifen zu können.
Aber in Kalkutta war man anderer Ansicht; der General hatte in der Eile
nicht alle erforderlichen Papiere mitgebracht, und so mußte er die nächste Post
von Europa abwarten, um seine Stelle antreten zu können. Seitdem hört
man gar nichts mehr vom Oberbefehlshaber, aber wol, daß englische Truppen
angekommen raren, die man mehre Tage ruhig noch auf den Schiffen ließ,
angeblich weil für alle von Europa erwarteten Truppen noch kein Quartier
gemacht sei, als wenn das nicht eine doppelte Veranlassung gegeben hätte,
die bereits angelangten rasch ins Innere zu erpediren. Ohnehin war Eile durch
die andern Verhältnisse genug geboten. Wir möchten fast die Ansicht aus¬
sprechen, daß neben dem altgewohnten Schlendrian in Kalkutta die feste Ab¬
sicht vorwalte, unter allen Umständen das Supremat der Civilverwaltung vor
den Militärbehörden aufrecht zu erhallen, und doch dürfte für die nächsten
Jahre eine Militärregierung für Ostindien am angemessensten sein.

Man hat gelegentlich die Meinung ausgesprochen, das demnächstige Mit-
agiren der aus England nachgesandten Regimenter werde auch darum für die
Kriegführung von Vortheil sein, weil es der ganz wilden Grausamkeit der von
Wuth und Rachedurst gepeitschten Engländer, welche die Meuterei mit durch¬
lebt haben, ein Ende machen werde. Abgesehen nun davon, daß bereits Trup¬
pen ankämpfen, die vom Cap, von Mauritius oder von der chinesischen Er¬
pedition herbeieilten, so meinen wir doch, hat man daS Verfahren der Engländer
gewaltig übertrieben. Daß man einen so heuchlerischen und blutgierigen Feind
vernichtete, wo man konnte, daß grade die Minderzahl, in welcher die Eng¬
länder kämpfen, Schonung fast unmöglich machte, daß eine solche unter Um¬
ständen wie den jetzigen und bei einer Bevölkerung, welche Milde nur zu gern
als Schwäche auslegt, nicht einmal angebracht war, versteht sich für jeden
Vernünftigen von selbst, und nicht minder begreiflich ist, wie Wuth über er¬
littene Mißhandlungen von Weib und Kind die ErbarmungSlvsigkeit steigerte,
so daß ohne Zweifel gelegentlich ganz unnöthige Mordercesse vorgekommen
sind. Dagegen wird z. B. aus Delhi berichtet, daß man während der Beren-
nung die nicht waffentragendc Bevölkerung ruhig entwischen ließ, aber die ganze
"'änuliche Bevölkerung, die mit oder ohne Waffen noch in der Stadt angetroffen
ward, niedermachle, während die Unmasse heulender und jammernder Frauen
unbelästigt blieb — gan; gewiß kein Verfahren unterschiedsloser Grausamkeit.
Aber die Englänverfresserei, die hie und da auch im lieben Vaterlande grassirt,
Nestel sich diesmal darin, die Engländer blutgierig und grausam zu schelten,
und daS thaten zum Theil dieselben Pseudvradicalcn, welche sonst dem
schönen Satze huldigen, Revolutionen können nicht mit Rosenwasser vollzogen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/363>, abgerufen am 23.07.2024.