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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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hirten Landes blieb, nämlich 2000 Einw. auf die Quadratmeile. So wuchs die
äußere Demoralisation in fleischlicher Hinsicht, obgleich unsere Großherzogthümer
bekanntermaßen das gelobte Land überstrenger Kirchlichkeit sind. So ward jene
massenhafte Auswanderung herbeigeführt, deren Gleichen verhältnißmäßig kein
Land Europas kennt, vielleicht, doch nur vielleicht, Irland ausgenommen.

Aber die Vertreter des Stabilitätsprincips mochten bei allen diesen
Erscheinungen durchaus nicht erkennen, daß die Leibeigenschaft ohne die noth¬
wendigen Konsequenzen der Umgestaltung aller feudalen Verhältnisse weggeräumt
war. Man freute sich in gewissen Kreisen sogar der dünnen Bevölkerung;
denn man meinte, für daS gröbste materielle Bedürfniß, das der Ernährung,
müßte sie ein rechtes Glück sein. Was ergaben dagegen die Theurungsjahre,
welche Europa soeben durchlebt hat? Daß es in Mecklenburg grade so theuer
war, wie anderwärts. Denn eine gute Gemeindearmenordnung gibt es ebenso¬
wenig, als überhaupt eine gute Gemeindeordnung; und die Armenpflege bleibt
größtentheils der Privatwohlthätigkeit überlassen. Gegen die Demoralisation
ward nun auch nicht etwa, trotz lauter Mahnungen dazu, durch Erleichterung
der Bedingungen für das Heirathen und die Ansässigmachung gewirkt, sondern
Strafbestimmungen gegen Concubinate und tgi., nebst Maßregelungen der
Presse, die etwas von den Annehmlichkeiten dieser Zustände ausplauderte, sollten
zu Heilmitteln werden. Die massenhaften Auswanderungen endlich nannten
die Einen bequemlichkeitshalber eine Krankheit, die Andern riefen den Fort¬
ziehenden nach: "Laß sie nur ziehen, die unruhigen Köpfe!" Und damit
glaubten sie ihr politisches Gewissen, wie ihr loyales Gefühl besonders gut
salvirt zu haben. Die Hauptsache blieb immer, man wollte die Consequenzen
der Bauernbefreiung nicht ziehen.

Das Feudalwesen war ein System der consequenten Abhängigkeit, wodurch
jedem Hörigen sein Wohnplatz, wie seine Beschäftigung angewiesen war. Dar¬
über konnte er nicht hinaus. Aber der Herr hatte eben auch alle Verpflich¬
tungen für den Leibeignen, er mußte für ihn sorgen, weil derselbe ein Theil
seines eignen Besitzes war. Indem man die Leibeigenschaft aufhob, erklärte
man, daß man auch das System des FeudalwesenS aufhebe. Folgerecht hätte
man also dem freigegebenen Leibeigenen auch größere Freiheit und Gelegenheit
sowol hinsichtlich seiner Niederlassung, als hinsichtlich seiner Erwerbswahl ein¬
räumen müssen. Dies geschah jedoch von keiner Seite und in keiner Richtung-
So sind die jetzigen Zustände großgewachsen.

Unterdessen ist aber die moderne Welt doch mit ihren Verkehrsmitteln ins
Land gedrungen. Chausseen, Eisenbahnen und vortreffliche Posteir richtungen
wurden von der Negierung geschaffen. Dennoch fristen alle diese Verkehrs¬
mittel ein nur kümmerliches Leben. Bei den Chausseen denkt man bereU
wieder an deren Derelinquirung, die Eisenbahnactien stehen 50°/-., das Buch-


hirten Landes blieb, nämlich 2000 Einw. auf die Quadratmeile. So wuchs die
äußere Demoralisation in fleischlicher Hinsicht, obgleich unsere Großherzogthümer
bekanntermaßen das gelobte Land überstrenger Kirchlichkeit sind. So ward jene
massenhafte Auswanderung herbeigeführt, deren Gleichen verhältnißmäßig kein
Land Europas kennt, vielleicht, doch nur vielleicht, Irland ausgenommen.

Aber die Vertreter des Stabilitätsprincips mochten bei allen diesen
Erscheinungen durchaus nicht erkennen, daß die Leibeigenschaft ohne die noth¬
wendigen Konsequenzen der Umgestaltung aller feudalen Verhältnisse weggeräumt
war. Man freute sich in gewissen Kreisen sogar der dünnen Bevölkerung;
denn man meinte, für daS gröbste materielle Bedürfniß, das der Ernährung,
müßte sie ein rechtes Glück sein. Was ergaben dagegen die Theurungsjahre,
welche Europa soeben durchlebt hat? Daß es in Mecklenburg grade so theuer
war, wie anderwärts. Denn eine gute Gemeindearmenordnung gibt es ebenso¬
wenig, als überhaupt eine gute Gemeindeordnung; und die Armenpflege bleibt
größtentheils der Privatwohlthätigkeit überlassen. Gegen die Demoralisation
ward nun auch nicht etwa, trotz lauter Mahnungen dazu, durch Erleichterung
der Bedingungen für das Heirathen und die Ansässigmachung gewirkt, sondern
Strafbestimmungen gegen Concubinate und tgi., nebst Maßregelungen der
Presse, die etwas von den Annehmlichkeiten dieser Zustände ausplauderte, sollten
zu Heilmitteln werden. Die massenhaften Auswanderungen endlich nannten
die Einen bequemlichkeitshalber eine Krankheit, die Andern riefen den Fort¬
ziehenden nach: „Laß sie nur ziehen, die unruhigen Köpfe!" Und damit
glaubten sie ihr politisches Gewissen, wie ihr loyales Gefühl besonders gut
salvirt zu haben. Die Hauptsache blieb immer, man wollte die Consequenzen
der Bauernbefreiung nicht ziehen.

Das Feudalwesen war ein System der consequenten Abhängigkeit, wodurch
jedem Hörigen sein Wohnplatz, wie seine Beschäftigung angewiesen war. Dar¬
über konnte er nicht hinaus. Aber der Herr hatte eben auch alle Verpflich¬
tungen für den Leibeignen, er mußte für ihn sorgen, weil derselbe ein Theil
seines eignen Besitzes war. Indem man die Leibeigenschaft aufhob, erklärte
man, daß man auch das System des FeudalwesenS aufhebe. Folgerecht hätte
man also dem freigegebenen Leibeigenen auch größere Freiheit und Gelegenheit
sowol hinsichtlich seiner Niederlassung, als hinsichtlich seiner Erwerbswahl ein¬
räumen müssen. Dies geschah jedoch von keiner Seite und in keiner Richtung-
So sind die jetzigen Zustände großgewachsen.

Unterdessen ist aber die moderne Welt doch mit ihren Verkehrsmitteln ins
Land gedrungen. Chausseen, Eisenbahnen und vortreffliche Posteir richtungen
wurden von der Negierung geschaffen. Dennoch fristen alle diese Verkehrs¬
mittel ein nur kümmerliches Leben. Bei den Chausseen denkt man bereU
wieder an deren Derelinquirung, die Eisenbahnactien stehen 50°/-., das Buch-


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[0358] hirten Landes blieb, nämlich 2000 Einw. auf die Quadratmeile. So wuchs die äußere Demoralisation in fleischlicher Hinsicht, obgleich unsere Großherzogthümer bekanntermaßen das gelobte Land überstrenger Kirchlichkeit sind. So ward jene massenhafte Auswanderung herbeigeführt, deren Gleichen verhältnißmäßig kein Land Europas kennt, vielleicht, doch nur vielleicht, Irland ausgenommen. Aber die Vertreter des Stabilitätsprincips mochten bei allen diesen Erscheinungen durchaus nicht erkennen, daß die Leibeigenschaft ohne die noth¬ wendigen Konsequenzen der Umgestaltung aller feudalen Verhältnisse weggeräumt war. Man freute sich in gewissen Kreisen sogar der dünnen Bevölkerung; denn man meinte, für daS gröbste materielle Bedürfniß, das der Ernährung, müßte sie ein rechtes Glück sein. Was ergaben dagegen die Theurungsjahre, welche Europa soeben durchlebt hat? Daß es in Mecklenburg grade so theuer war, wie anderwärts. Denn eine gute Gemeindearmenordnung gibt es ebenso¬ wenig, als überhaupt eine gute Gemeindeordnung; und die Armenpflege bleibt größtentheils der Privatwohlthätigkeit überlassen. Gegen die Demoralisation ward nun auch nicht etwa, trotz lauter Mahnungen dazu, durch Erleichterung der Bedingungen für das Heirathen und die Ansässigmachung gewirkt, sondern Strafbestimmungen gegen Concubinate und tgi., nebst Maßregelungen der Presse, die etwas von den Annehmlichkeiten dieser Zustände ausplauderte, sollten zu Heilmitteln werden. Die massenhaften Auswanderungen endlich nannten die Einen bequemlichkeitshalber eine Krankheit, die Andern riefen den Fort¬ ziehenden nach: „Laß sie nur ziehen, die unruhigen Köpfe!" Und damit glaubten sie ihr politisches Gewissen, wie ihr loyales Gefühl besonders gut salvirt zu haben. Die Hauptsache blieb immer, man wollte die Consequenzen der Bauernbefreiung nicht ziehen. Das Feudalwesen war ein System der consequenten Abhängigkeit, wodurch jedem Hörigen sein Wohnplatz, wie seine Beschäftigung angewiesen war. Dar¬ über konnte er nicht hinaus. Aber der Herr hatte eben auch alle Verpflich¬ tungen für den Leibeignen, er mußte für ihn sorgen, weil derselbe ein Theil seines eignen Besitzes war. Indem man die Leibeigenschaft aufhob, erklärte man, daß man auch das System des FeudalwesenS aufhebe. Folgerecht hätte man also dem freigegebenen Leibeigenen auch größere Freiheit und Gelegenheit sowol hinsichtlich seiner Niederlassung, als hinsichtlich seiner Erwerbswahl ein¬ räumen müssen. Dies geschah jedoch von keiner Seite und in keiner Richtung- So sind die jetzigen Zustände großgewachsen. Unterdessen ist aber die moderne Welt doch mit ihren Verkehrsmitteln ins Land gedrungen. Chausseen, Eisenbahnen und vortreffliche Posteir richtungen wurden von der Negierung geschaffen. Dennoch fristen alle diese Verkehrs¬ mittel ein nur kümmerliches Leben. Bei den Chausseen denkt man bereU wieder an deren Derelinquirung, die Eisenbahnactien stehen 50°/-., das Buch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/358>, abgerufen am 23.07.2024.