Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.kolossale Verwendung der Kunst zur Verschönerung des Daseins ohne Kunst¬ kolossale Verwendung der Kunst zur Verschönerung des Daseins ohne Kunst¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0348" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105083"/> <p xml:id="ID_976" prev="#ID_975" next="#ID_977"> kolossale Verwendung der Kunst zur Verschönerung des Daseins ohne Kunst¬<lb/> sinn undenkbar, „jene Kunst- und Bilderlust eines ganzen Volkes, von der<lb/> jetzo der eifrigste Liebhaber weder Begriff noch Gefühl noch Bedürfniß hat."<lb/> (Goethe). Allerdings müßten diese Erscheinungen ohne die Voraussetzung eines<lb/> allgemeinen lebhaften Kunstgefühls unbegreiflich bleiben, wenn es erlaubt wäre,<lb/> die Analogien der Gegenwart ohne weiteres auf jene Zeit zu übertragen. Aber<lb/> dies würde völlig unhistorisch sein. Bei uns eristirt die Kunst, wie bemerkt,<lb/> nur für die kleine Minorität der Gebildeten, und wenn freilich auch hier oft<lb/> genug Mode und Prunksucht den Schein der Kunstliebe annehmen, so ist<lb/> doch im Allgemeinen in dieser beschränkten Sphäre ein hoher Begriff von der<lb/> Kunst verbreitet, im Allgemeinen wird sie hier nicht als Gegenstand des Lurus<lb/> oder als Mittel zur Verschönerung, sondern um ihrer selbst willen geschätzt,<lb/> und deshalb darf man in der heutigen Welt aus dem Verlangen nach ihr auf<lb/> wahren Kunstsinn schließen. Beiden Römern suchen wir den hohen Begriff<lb/> von der Würde der Kunst vergebens. Sie, die eine eigne Kunst nie besessen<lb/> hatten, sahen durch die Unterwerfung Griechenlands die eines verwandten,<lb/> höher entwickelten Volkes sich zur Verfügung gestellt, die an Inhalt und Dar-<lb/> stellungsmitteln unermeßlich reich, überdies an den Diadochenhöfen bereits<lb/> geübt war, mit brillanten und imposanten Leistungen dem Bedürfniß deS Mo¬<lb/> ments rasch zu entsprechen. Einzelne wurden ohne Zweifel von wahrer Begeiste¬<lb/> rung für die neue Welt erfaßt, die sich hier aufthat und bildeten Verständniß<lb/> und Kennerschaft in sich aus; viele mögen ernstlich bemüh! gewesen sein, sich<lb/> das fremde Culiurelcmeut anzueignen, ohne doch in sein innerstes Wesen ein¬<lb/> dringen zu können; der größere Theil der Gebildeten hat sich offenbar zu<lb/> Hause wie auf Reisen mit jener oben beschriebenen oberflächlichen Kenntni߬<lb/> nahme begnügt und mehr aus Bücher» als durch Anschauung unterrichtet-<lb/> Der überwiegenden Mehrzahl der besitzenden Classen war die Kunst willkommen,<lb/> weil sie dem vorübereilenden Moment ewige Dauer zu verleihen und die Pracht<lb/> der Existenz zu erhöhen, auch wol zu veredeln vermochte. Vollends die Bil¬<lb/> derlust der Massen kann man unmöglich mit wahrem Kunsisinn verwechseln.<lb/> Es war die naive, reflerionslose Freude an Farben und Gestalten, die sich<lb/> auch heute bei den Südländern so viel lebendiger regt als im Norden. Da¬<lb/> mals freilich kam diesem Formen- und Farbensinn ein massenhaft, wohlfeil und<lb/> bewundernswürdig gut arbeitendes Kunsthandwerferthum entgegen, und unter<lb/> diesen beispiellos günstigen BedingungeK wurde die im Volke verbreitete An¬<lb/> lage ganz anders ausgebildet und veredelt als zu irgend einer andern Zeit-<lb/> Heute, wo auch im Süden keine allgegenwärtige, allen zugängliche Kunst et'i-<lb/> stirt, verkümmert diese Anlage ohne zur Entwicklung zu gelangen, und sucht<lb/> und findet in bunten malerischen Trachten, Tand und Flittern, in heiterer<lb/> Ausstaffirung der Wohnungen eine unendlich rohere Befriedigung. Goethe</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0348]
kolossale Verwendung der Kunst zur Verschönerung des Daseins ohne Kunst¬
sinn undenkbar, „jene Kunst- und Bilderlust eines ganzen Volkes, von der
jetzo der eifrigste Liebhaber weder Begriff noch Gefühl noch Bedürfniß hat."
(Goethe). Allerdings müßten diese Erscheinungen ohne die Voraussetzung eines
allgemeinen lebhaften Kunstgefühls unbegreiflich bleiben, wenn es erlaubt wäre,
die Analogien der Gegenwart ohne weiteres auf jene Zeit zu übertragen. Aber
dies würde völlig unhistorisch sein. Bei uns eristirt die Kunst, wie bemerkt,
nur für die kleine Minorität der Gebildeten, und wenn freilich auch hier oft
genug Mode und Prunksucht den Schein der Kunstliebe annehmen, so ist
doch im Allgemeinen in dieser beschränkten Sphäre ein hoher Begriff von der
Kunst verbreitet, im Allgemeinen wird sie hier nicht als Gegenstand des Lurus
oder als Mittel zur Verschönerung, sondern um ihrer selbst willen geschätzt,
und deshalb darf man in der heutigen Welt aus dem Verlangen nach ihr auf
wahren Kunstsinn schließen. Beiden Römern suchen wir den hohen Begriff
von der Würde der Kunst vergebens. Sie, die eine eigne Kunst nie besessen
hatten, sahen durch die Unterwerfung Griechenlands die eines verwandten,
höher entwickelten Volkes sich zur Verfügung gestellt, die an Inhalt und Dar-
stellungsmitteln unermeßlich reich, überdies an den Diadochenhöfen bereits
geübt war, mit brillanten und imposanten Leistungen dem Bedürfniß deS Mo¬
ments rasch zu entsprechen. Einzelne wurden ohne Zweifel von wahrer Begeiste¬
rung für die neue Welt erfaßt, die sich hier aufthat und bildeten Verständniß
und Kennerschaft in sich aus; viele mögen ernstlich bemüh! gewesen sein, sich
das fremde Culiurelcmeut anzueignen, ohne doch in sein innerstes Wesen ein¬
dringen zu können; der größere Theil der Gebildeten hat sich offenbar zu
Hause wie auf Reisen mit jener oben beschriebenen oberflächlichen Kenntni߬
nahme begnügt und mehr aus Bücher» als durch Anschauung unterrichtet-
Der überwiegenden Mehrzahl der besitzenden Classen war die Kunst willkommen,
weil sie dem vorübereilenden Moment ewige Dauer zu verleihen und die Pracht
der Existenz zu erhöhen, auch wol zu veredeln vermochte. Vollends die Bil¬
derlust der Massen kann man unmöglich mit wahrem Kunsisinn verwechseln.
Es war die naive, reflerionslose Freude an Farben und Gestalten, die sich
auch heute bei den Südländern so viel lebendiger regt als im Norden. Da¬
mals freilich kam diesem Formen- und Farbensinn ein massenhaft, wohlfeil und
bewundernswürdig gut arbeitendes Kunsthandwerferthum entgegen, und unter
diesen beispiellos günstigen BedingungeK wurde die im Volke verbreitete An¬
lage ganz anders ausgebildet und veredelt als zu irgend einer andern Zeit-
Heute, wo auch im Süden keine allgegenwärtige, allen zugängliche Kunst et'i-
stirt, verkümmert diese Anlage ohne zur Entwicklung zu gelangen, und sucht
und findet in bunten malerischen Trachten, Tand und Flittern, in heiterer
Ausstaffirung der Wohnungen eine unendlich rohere Befriedigung. Goethe
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