Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.Große, auf die Geschicke der europäischen Staaten haben diese Besuche ge¬ Es ist in diesen Blättern öfter der Versuch gemacht worden, die Persön¬ Zu den Gedanken, welche am festesten in der Seele Napoleons haften Große, auf die Geschicke der europäischen Staaten haben diese Besuche ge¬ Es ist in diesen Blättern öfter der Versuch gemacht worden, die Persön¬ Zu den Gedanken, welche am festesten in der Seele Napoleons haften <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0330" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105065"/> <p xml:id="ID_935" prev="#ID_934"> Große, auf die Geschicke der europäischen Staaten haben diese Besuche ge¬<lb/> ringeren Einfluß gehabt, als vielleicht von den Herrschern selbst erwartet<lb/> wurde. Man kann, ohne Augur zu sein, sowol für Frankreich als für Rußland<lb/> und Oestreich dies schon jetzt prophezeien.</p><lb/> <p xml:id="ID_936"> Es ist in diesen Blättern öfter der Versuch gemacht worden, die Persön¬<lb/> lichkeit des französischen Kaisers zu charakterisiren. Wenn > die Schilderung<lb/> seines Wesens als wahr erschienen ist, so wird unzweifelhaft auch be¬<lb/> merkbar geworden sein, daß nicht alles von ihm gesagt wurde, worauf dre<lb/> Deutsche bei Beurtheilung dieser merkwürdigen Persönlichkeit Werth legen<lb/> sollte. Da jetzt aber der Kaiser selbst bald nach der Rückkehr aus Deutschland<lb/> über seine Politik charakteristische Enthüllungen in den nicht officiellen Spalten<lb/> des „Siecle" hat aussprechen lassen, so wird es keine Indiscretion sein, auch<lb/> den deutschen Leser darauf aufmerksam zu machen.</p><lb/> <p xml:id="ID_937"> Zu den Gedanken, welche am festesten in der Seele Napoleons haften<lb/> und welche er seit dem Beginn deö orientalischen Krieges, ohne Hehl und gern<lb/> und jetzt sogar inj der Presse ausgesprochen hat, gehören folgende: Seine Familie<lb/> sei dem Staate Frankreich eine Dotation schuldig; die Grenzen Frankreichs seien<lb/> durch den Frieden von ungebührlich beschränkt worden; dies Unrecht<lb/> werde am besten bei einer allgemeinen Revision der Karte von Europa gut<lb/> gemacht werden; diese Revision solle eine Regulirung aller großen schwebenden<lb/> Fragen in sich schließen; sie müsse durchgesetzt werden nicht durch einen euro¬<lb/> päischen Krieg, sondern dnrch feste Allianzen und friedliches Einvernehme"<lb/> mehrer Großmächte. Nach der Eroberung von Sebastopvl mußte England<lb/> alle Mühe anwenden, um den Kaiser, der den Zeitpunkt für günstig hielt, von<lb/> weiteren Schritten zu Realisirung dieser Idee abzubringen. Und man thut ve>»<lb/> Kaiser nicht Unrecht, wenn man die Ueberzeugung festhält, daß dieselben Gedanken<lb/> ihm seitdem die auswärtige Politik bestimmen. Denn sein energischer Geist,<lb/> welcher durchaus nicht mir dem Apparat brillanter und wechselnder Gedanken<lb/> operirt, aber das einmal Aufgenommene eisenfest hält, hat seitdem jede Gelegen¬<lb/> heit benützt für ein solches großes Bündnis; zur Regulirung Europas zu<lb/> arbeiten. Nach einem kurzen und erfolglosen Versuch sich mit Oestreich Z"<lb/> stellen, ward die Annäherung an Nußland das nächste Ziel seiner diplomatische"<lb/> Action. Auch mit Preußen erstrebte er als Vermittler in der neuenburgcr<lb/> Angelegenheit und durch kleine verpflichtende Aufmerksamkeiten ein näheres Ver¬<lb/> hältniß, dessen Befestigung durch die allmälige Erkrankung deö Königs bis<lb/> jetzt verhindert worden ist. Preußens Beitritt zur großen Union der Zukunft<lb/> erschien schon deshalb unerläßlich, weil die nahen Beziehungen zwischen dem preu¬<lb/> ßischen und russischen Herrscherhause unter dem Kaiser Alexander ein gcwalt-<lb/> thätiges Isoliren Preußens weniger ausführbar machen als unter Kaiser<lb/> Nikolaus möglich gewesen wäre.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0330]
Große, auf die Geschicke der europäischen Staaten haben diese Besuche ge¬
ringeren Einfluß gehabt, als vielleicht von den Herrschern selbst erwartet
wurde. Man kann, ohne Augur zu sein, sowol für Frankreich als für Rußland
und Oestreich dies schon jetzt prophezeien.
Es ist in diesen Blättern öfter der Versuch gemacht worden, die Persön¬
lichkeit des französischen Kaisers zu charakterisiren. Wenn > die Schilderung
seines Wesens als wahr erschienen ist, so wird unzweifelhaft auch be¬
merkbar geworden sein, daß nicht alles von ihm gesagt wurde, worauf dre
Deutsche bei Beurtheilung dieser merkwürdigen Persönlichkeit Werth legen
sollte. Da jetzt aber der Kaiser selbst bald nach der Rückkehr aus Deutschland
über seine Politik charakteristische Enthüllungen in den nicht officiellen Spalten
des „Siecle" hat aussprechen lassen, so wird es keine Indiscretion sein, auch
den deutschen Leser darauf aufmerksam zu machen.
Zu den Gedanken, welche am festesten in der Seele Napoleons haften
und welche er seit dem Beginn deö orientalischen Krieges, ohne Hehl und gern
und jetzt sogar inj der Presse ausgesprochen hat, gehören folgende: Seine Familie
sei dem Staate Frankreich eine Dotation schuldig; die Grenzen Frankreichs seien
durch den Frieden von ungebührlich beschränkt worden; dies Unrecht
werde am besten bei einer allgemeinen Revision der Karte von Europa gut
gemacht werden; diese Revision solle eine Regulirung aller großen schwebenden
Fragen in sich schließen; sie müsse durchgesetzt werden nicht durch einen euro¬
päischen Krieg, sondern dnrch feste Allianzen und friedliches Einvernehme"
mehrer Großmächte. Nach der Eroberung von Sebastopvl mußte England
alle Mühe anwenden, um den Kaiser, der den Zeitpunkt für günstig hielt, von
weiteren Schritten zu Realisirung dieser Idee abzubringen. Und man thut ve>»
Kaiser nicht Unrecht, wenn man die Ueberzeugung festhält, daß dieselben Gedanken
ihm seitdem die auswärtige Politik bestimmen. Denn sein energischer Geist,
welcher durchaus nicht mir dem Apparat brillanter und wechselnder Gedanken
operirt, aber das einmal Aufgenommene eisenfest hält, hat seitdem jede Gelegen¬
heit benützt für ein solches großes Bündnis; zur Regulirung Europas zu
arbeiten. Nach einem kurzen und erfolglosen Versuch sich mit Oestreich Z"
stellen, ward die Annäherung an Nußland das nächste Ziel seiner diplomatische"
Action. Auch mit Preußen erstrebte er als Vermittler in der neuenburgcr
Angelegenheit und durch kleine verpflichtende Aufmerksamkeiten ein näheres Ver¬
hältniß, dessen Befestigung durch die allmälige Erkrankung deö Königs bis
jetzt verhindert worden ist. Preußens Beitritt zur großen Union der Zukunft
erschien schon deshalb unerläßlich, weil die nahen Beziehungen zwischen dem preu¬
ßischen und russischen Herrscherhause unter dem Kaiser Alexander ein gcwalt-
thätiges Isoliren Preußens weniger ausführbar machen als unter Kaiser
Nikolaus möglich gewesen wäre.
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