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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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und namentlich der Philosophie seiner Nation besaß, die sich vollkommen un¬
abhängig von dem Bildungsgange der nichtchinestschen Welt entwickelt hatte,
und daß die Grundanschauungen dieser durchaus fremdartigen Bildung noth¬
wendig auf die Auffassung der neuen Lehre Einfluß haben mußten, selbst dann
Einfluß haben mußten, wenn die Bibel von ihm als höchster Maßstab der
Wahrheit und oberste Glaubensregel anerkannt wurde.

Im Uebrigen trägt die Dogmatik der Taipings, wie sich daS von selbst
versteht, noch ganz den Charakter einer unfertigen, werdenden. Sie ist voll
Schwankungen und selbst voll, Widersprüche, und wenn wir im Folgende",
den Angaben MeadowS' folgend, einige Notizen darüber mittheilen, so ist die
Frage, ob sie heute noch richtig sind.

Die bedeutendste Abweichung von der Dogmatik der christlichen Kirche im
Westen findet sich in der Auffassung der Person Jesu. Nur der himmlische
Bater, Hoang Schang Ti, ist wirklicher wahrer Gott. Und wie Hung es
tadelt, daß irdische Herrscher, z. B. der Kaiser von China sich den Titel "Ti"
(Gott) beilegen, und sie nur "Tschn" (Herr) oder "Wang" (Fürst) genannt
wissen will, so gebührt nach ihm auch Jesu nur die Bezeichnung "Tschu". Er
ist Hoang Schang TiS ältester Sohn, ihm aber nicht coordinirt, nicht gleich¬
artig. Von allen andern Söhnen Gottes -- und alle, die sich zu der neuen
Lehre bekennen, werden solche Söhne -- ist Hung sin Thinen der größte.
Er ist von allen Menschen nach Jesus am meisten zu ehren; denn er ist der
zweite Sohn des himmlischen Vaters.. Aber während Gott der Vater, so wie sein
älterer Sohn in den Schriften Hungs ausdrücklich das Prädicat "der Heilige"
(Sching) bekommt, verbietet Hung ebenso ausdrücklich, daß man ihn selbst
"heilig" nenne und bezeichnet dies sogar als Sünde.

Der Moralcoder der Taipings ist in dem "Buch der himmlischen Vor¬
schriften" enthalten, die nichts Anderes als unsere zehn Gebote sind, jedoch mit
einigen Abänderungen. So heißt das dritte Gebot des lutherischen Katechis¬
mus in der Version Hungs statt: "Du sollst den Feiertag heiligen", "Du sollst
am siebenten Tage, dem Tage des Gottesdienstes, Hoang Schang Ti für
seine Güte preisen." Vom Heilighalten des Tages durch Nichtarbeite" ist
keine Rede. Auch das achte Gebot: "Du sollst nicht falsches Zeugniß reden
wider deinen Nächsten", ist verändert, indem eS bei den TaipingS: "Du
sollst nicht Lügen reden" lautet. Die Lehre von der Erbsünde kennen sie nicht-
Der Mensch ist ihnen von Natur gut, ganz wie den altchinesischen Weisen.
Indeß nehmen sie an, daß alle Menschen gesündigt haben. Die Art,
man sich von den Folgen dieser Sünde befreit, war bisher unbekannt. Durch
Hung ist der Weg zur Vermeidung gezeigt worden. Die, welche Neue em¬
pfinden, sollen kniend den himmlischen Vater um Vergebung ihrer Schuld
bitten, dann den Körper mit Wasser in einem Becken waschen oder in einem


und namentlich der Philosophie seiner Nation besaß, die sich vollkommen un¬
abhängig von dem Bildungsgange der nichtchinestschen Welt entwickelt hatte,
und daß die Grundanschauungen dieser durchaus fremdartigen Bildung noth¬
wendig auf die Auffassung der neuen Lehre Einfluß haben mußten, selbst dann
Einfluß haben mußten, wenn die Bibel von ihm als höchster Maßstab der
Wahrheit und oberste Glaubensregel anerkannt wurde.

Im Uebrigen trägt die Dogmatik der Taipings, wie sich daS von selbst
versteht, noch ganz den Charakter einer unfertigen, werdenden. Sie ist voll
Schwankungen und selbst voll, Widersprüche, und wenn wir im Folgende",
den Angaben MeadowS' folgend, einige Notizen darüber mittheilen, so ist die
Frage, ob sie heute noch richtig sind.

Die bedeutendste Abweichung von der Dogmatik der christlichen Kirche im
Westen findet sich in der Auffassung der Person Jesu. Nur der himmlische
Bater, Hoang Schang Ti, ist wirklicher wahrer Gott. Und wie Hung es
tadelt, daß irdische Herrscher, z. B. der Kaiser von China sich den Titel „Ti"
(Gott) beilegen, und sie nur „Tschn" (Herr) oder „Wang" (Fürst) genannt
wissen will, so gebührt nach ihm auch Jesu nur die Bezeichnung „Tschu". Er
ist Hoang Schang TiS ältester Sohn, ihm aber nicht coordinirt, nicht gleich¬
artig. Von allen andern Söhnen Gottes — und alle, die sich zu der neuen
Lehre bekennen, werden solche Söhne — ist Hung sin Thinen der größte.
Er ist von allen Menschen nach Jesus am meisten zu ehren; denn er ist der
zweite Sohn des himmlischen Vaters.. Aber während Gott der Vater, so wie sein
älterer Sohn in den Schriften Hungs ausdrücklich das Prädicat „der Heilige"
(Sching) bekommt, verbietet Hung ebenso ausdrücklich, daß man ihn selbst
„heilig" nenne und bezeichnet dies sogar als Sünde.

Der Moralcoder der Taipings ist in dem „Buch der himmlischen Vor¬
schriften" enthalten, die nichts Anderes als unsere zehn Gebote sind, jedoch mit
einigen Abänderungen. So heißt das dritte Gebot des lutherischen Katechis¬
mus in der Version Hungs statt: „Du sollst den Feiertag heiligen", „Du sollst
am siebenten Tage, dem Tage des Gottesdienstes, Hoang Schang Ti für
seine Güte preisen." Vom Heilighalten des Tages durch Nichtarbeite» ist
keine Rede. Auch das achte Gebot: „Du sollst nicht falsches Zeugniß reden
wider deinen Nächsten", ist verändert, indem eS bei den TaipingS: „Du
sollst nicht Lügen reden" lautet. Die Lehre von der Erbsünde kennen sie nicht-
Der Mensch ist ihnen von Natur gut, ganz wie den altchinesischen Weisen.
Indeß nehmen sie an, daß alle Menschen gesündigt haben. Die Art,
man sich von den Folgen dieser Sünde befreit, war bisher unbekannt. Durch
Hung ist der Weg zur Vermeidung gezeigt worden. Die, welche Neue em¬
pfinden, sollen kniend den himmlischen Vater um Vergebung ihrer Schuld
bitten, dann den Körper mit Wasser in einem Becken waschen oder in einem


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[0272] und namentlich der Philosophie seiner Nation besaß, die sich vollkommen un¬ abhängig von dem Bildungsgange der nichtchinestschen Welt entwickelt hatte, und daß die Grundanschauungen dieser durchaus fremdartigen Bildung noth¬ wendig auf die Auffassung der neuen Lehre Einfluß haben mußten, selbst dann Einfluß haben mußten, wenn die Bibel von ihm als höchster Maßstab der Wahrheit und oberste Glaubensregel anerkannt wurde. Im Uebrigen trägt die Dogmatik der Taipings, wie sich daS von selbst versteht, noch ganz den Charakter einer unfertigen, werdenden. Sie ist voll Schwankungen und selbst voll, Widersprüche, und wenn wir im Folgende", den Angaben MeadowS' folgend, einige Notizen darüber mittheilen, so ist die Frage, ob sie heute noch richtig sind. Die bedeutendste Abweichung von der Dogmatik der christlichen Kirche im Westen findet sich in der Auffassung der Person Jesu. Nur der himmlische Bater, Hoang Schang Ti, ist wirklicher wahrer Gott. Und wie Hung es tadelt, daß irdische Herrscher, z. B. der Kaiser von China sich den Titel „Ti" (Gott) beilegen, und sie nur „Tschn" (Herr) oder „Wang" (Fürst) genannt wissen will, so gebührt nach ihm auch Jesu nur die Bezeichnung „Tschu". Er ist Hoang Schang TiS ältester Sohn, ihm aber nicht coordinirt, nicht gleich¬ artig. Von allen andern Söhnen Gottes — und alle, die sich zu der neuen Lehre bekennen, werden solche Söhne — ist Hung sin Thinen der größte. Er ist von allen Menschen nach Jesus am meisten zu ehren; denn er ist der zweite Sohn des himmlischen Vaters.. Aber während Gott der Vater, so wie sein älterer Sohn in den Schriften Hungs ausdrücklich das Prädicat „der Heilige" (Sching) bekommt, verbietet Hung ebenso ausdrücklich, daß man ihn selbst „heilig" nenne und bezeichnet dies sogar als Sünde. Der Moralcoder der Taipings ist in dem „Buch der himmlischen Vor¬ schriften" enthalten, die nichts Anderes als unsere zehn Gebote sind, jedoch mit einigen Abänderungen. So heißt das dritte Gebot des lutherischen Katechis¬ mus in der Version Hungs statt: „Du sollst den Feiertag heiligen", „Du sollst am siebenten Tage, dem Tage des Gottesdienstes, Hoang Schang Ti für seine Güte preisen." Vom Heilighalten des Tages durch Nichtarbeite» ist keine Rede. Auch das achte Gebot: „Du sollst nicht falsches Zeugniß reden wider deinen Nächsten", ist verändert, indem eS bei den TaipingS: „Du sollst nicht Lügen reden" lautet. Die Lehre von der Erbsünde kennen sie nicht- Der Mensch ist ihnen von Natur gut, ganz wie den altchinesischen Weisen. Indeß nehmen sie an, daß alle Menschen gesündigt haben. Die Art, man sich von den Folgen dieser Sünde befreit, war bisher unbekannt. Durch Hung ist der Weg zur Vermeidung gezeigt worden. Die, welche Neue em¬ pfinden, sollen kniend den himmlischen Vater um Vergebung ihrer Schuld bitten, dann den Körper mit Wasser in einem Becken waschen oder in einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/272>, abgerufen am 23.07.2024.