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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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erst neu angekommener Arzt mit vieler Mühe übersteigen wird. Der Eigennutz
seiner Collegen, ihre Unwissenheit und ihre daraus folgende Furcht entlarvt zu
werden, macht, daß er keine größeren Feinde als sie hat. Sie verdammen ihn
zur Unthätigkeit durch daS Vorgeben, er kenne das Klima nicht; ein feines
Lächeln, eine gewisse Handbewegung vernichtet seinen jungen, mit vieler Mühe
erworbenen Ruf.

Man würde sich sehr täuschen, wenn man meint, daß die Zahl der Aerzte
für die Bevölkerung zu groß ist. Man rechnet auf fast 900,000 Einwohner
nur 130 wirkliche Aerzte, und von diesen practicirt ein Drittel wenig, ein
ein anderes fast gar nicht. Der Hauptgrund dieser sonderbaren Erscheinung
ist, daß sich alle diese 130 Aerzte in der Vorstadt Pera niedergelassen haben,
also inmitten einer Bevölkerung von ungefähr 50,000 Seelen; dies wiederum
eine nothwendige Folge der verschiedenen Elemente, aus denen die Hauptstadt
zusammengesetzt ist. Pera ist der Aufenthalt von allen Gesandtschaften und
allen Fremden von Bedeutung, so wie von einigen reichen Inländern, Künst¬
lern, Advocaten und dergleichen. Es ist mit einem Worte eine europäische
Stadt, welche mit ihrer ganz christlichen Bevölkerung in eine türkische Stadt
eingeschachtelt ist. Die islamitische Bevölkerung bewohnt ausschließlich Stam-
bul, und ist zudem auf beiden Ufern des Bosporus in vielen Quartieren ver¬
breitet, ohne mit Juden, Griechen und Armeniern vermengt zu sein. Galata
bewahrt allein den Geist und die Bestimmung seiner ersten Gründer, der Ge¬
wieher. ES ist das Herz des Handels und enthält nichts als Comptoirs und
Magazine.

Da nun alles, was unter den Christen von Bedeutung ist, in Pera wohnt,
so müssen sich folglich auch alle Aerzte dort aufhalten. Wenn sich daher ein
mit der Art des Landes noch unbekannter Arzt in irgend einer andern Vor¬
stadt, welche keinen Arzt hat, niederläßt, kann er sicher sein, daß niemand bei
ihm Hilfe sucht. Das türkische Publicum, nach seiner Art zu schließen, bekommt
eine schlechte Meinung von ihm, denn es begreift nicht, wie ein tüchtiger und
kenntnißreicher Arzt sich entschließen kann, sich von seinen Collegen abzuson¬
dern und seine Kunst in einem entlegenen Quartiere auszuüben. Man läßt
daher einen Arzt nur aus Pera holen, wenn man sich nicht den Quacksalbern
in die Arme wirft.

Man zählt nur sehr wenige Aerzte, deren Ruf allgemein verbreitet ist.
Theils ist es ihre Stellung als Arzt bei einer Gesandtschaft, oder als Pro-
fessor an der Heole 6s meclöLine, theils ist es ihr langer Aufenthalt, welcher sie
bekannt gemacht hat. Andere genießen bei bestimmten Nationalitäten ein hohes
Ansehen, ohne daß sie darum viele Kenntnisse zu besitzen brauchten.

Das eine Drittel, welches nur wenig practicirt, besteht aus Aerzten, welche
'rgend eine Anstellung haben, und nur ausnahmsweise zu Krankenbesuchen


erst neu angekommener Arzt mit vieler Mühe übersteigen wird. Der Eigennutz
seiner Collegen, ihre Unwissenheit und ihre daraus folgende Furcht entlarvt zu
werden, macht, daß er keine größeren Feinde als sie hat. Sie verdammen ihn
zur Unthätigkeit durch daS Vorgeben, er kenne das Klima nicht; ein feines
Lächeln, eine gewisse Handbewegung vernichtet seinen jungen, mit vieler Mühe
erworbenen Ruf.

Man würde sich sehr täuschen, wenn man meint, daß die Zahl der Aerzte
für die Bevölkerung zu groß ist. Man rechnet auf fast 900,000 Einwohner
nur 130 wirkliche Aerzte, und von diesen practicirt ein Drittel wenig, ein
ein anderes fast gar nicht. Der Hauptgrund dieser sonderbaren Erscheinung
ist, daß sich alle diese 130 Aerzte in der Vorstadt Pera niedergelassen haben,
also inmitten einer Bevölkerung von ungefähr 50,000 Seelen; dies wiederum
eine nothwendige Folge der verschiedenen Elemente, aus denen die Hauptstadt
zusammengesetzt ist. Pera ist der Aufenthalt von allen Gesandtschaften und
allen Fremden von Bedeutung, so wie von einigen reichen Inländern, Künst¬
lern, Advocaten und dergleichen. Es ist mit einem Worte eine europäische
Stadt, welche mit ihrer ganz christlichen Bevölkerung in eine türkische Stadt
eingeschachtelt ist. Die islamitische Bevölkerung bewohnt ausschließlich Stam-
bul, und ist zudem auf beiden Ufern des Bosporus in vielen Quartieren ver¬
breitet, ohne mit Juden, Griechen und Armeniern vermengt zu sein. Galata
bewahrt allein den Geist und die Bestimmung seiner ersten Gründer, der Ge¬
wieher. ES ist das Herz des Handels und enthält nichts als Comptoirs und
Magazine.

Da nun alles, was unter den Christen von Bedeutung ist, in Pera wohnt,
so müssen sich folglich auch alle Aerzte dort aufhalten. Wenn sich daher ein
mit der Art des Landes noch unbekannter Arzt in irgend einer andern Vor¬
stadt, welche keinen Arzt hat, niederläßt, kann er sicher sein, daß niemand bei
ihm Hilfe sucht. Das türkische Publicum, nach seiner Art zu schließen, bekommt
eine schlechte Meinung von ihm, denn es begreift nicht, wie ein tüchtiger und
kenntnißreicher Arzt sich entschließen kann, sich von seinen Collegen abzuson¬
dern und seine Kunst in einem entlegenen Quartiere auszuüben. Man läßt
daher einen Arzt nur aus Pera holen, wenn man sich nicht den Quacksalbern
in die Arme wirft.

Man zählt nur sehr wenige Aerzte, deren Ruf allgemein verbreitet ist.
Theils ist es ihre Stellung als Arzt bei einer Gesandtschaft, oder als Pro-
fessor an der Heole 6s meclöLine, theils ist es ihr langer Aufenthalt, welcher sie
bekannt gemacht hat. Andere genießen bei bestimmten Nationalitäten ein hohes
Ansehen, ohne daß sie darum viele Kenntnisse zu besitzen brauchten.

Das eine Drittel, welches nur wenig practicirt, besteht aus Aerzten, welche
'rgend eine Anstellung haben, und nur ausnahmsweise zu Krankenbesuchen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/237>, abgerufen am 23.07.2024.