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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Und seh ich ihn, so den! ich gleich
Des Lebens schwerster Stunde!
Nicht klar mehr weiß ich, was mir wol
Geschlagen damals Wunden,
Doch wein' und schluchz' ich so, wie ich
' Geschluchzt in jenen Stunden!

Wenn der Reiz der Neuheit und Urspninglichkeit in den humoristischen
Gedichten größer ist, so machen doch auch die ernsten Lieder durchweg den
Eindruck der Wahrheit und der Gemüthstiefe, namentlich tritt das bei den
Liebesliedern hervor, die recht aus voller Seele geschrieben sind, und die
feinsten Regungen des Herzens entfalten. Bei der Innigkeit, die sich durch¬
weg in seinen Liedern zeigt, ist Petöfis frühzeitiger Tod um so mehr zu be¬
klagen, da er zugleich außerordentlich fruchtbar war. 1823 geboren, der Sohn
eines Fleischers, kam er zuerst 18ii- nach Pesth, wo er von dem damaligen
Classiker VöröSmarty die Anerkennung erhielt, der erste Lyriker Ungarns zu
sein und l'alt auch der Liebling deS NolkeS wurde. Er hatte sich eben ver-
heirathet und lebte in den glücklichste" Verhältnissen, als die Revolution den
jungen feurigen Patrioten in ihren Strudel riß. Nach dem Treffen bei
Schaßdnrg, 3L Juli -1849, verschwand er spurlos, wahrscheinlich von räube¬
rischen Landvolk erschlagen. Die Ungarn sollen noch immer glauben, daß er
unter den Lebendigen weilt, jedenfalls wird er in seinen Liedern fortleben.
Ein tüchtiger ungarischer Kritiker, Gyulai, macht mit Recht aus die hervor¬
stechende Eigenschaft seiner Dichtung, die Offenherzigkeit, aufmerksam. "Man
war starr vor Staunen, alö ein Dichter von sich selbst solche Tinge eingestand,
deren sich viele Menschen schämen. Doch konnte niemand leugnen, daß, so¬
bald er zu erzählen begann, wie er aus der Schule durchgegangen, als ge¬
meiner Soldat und alö Komödiant herumvagabundirt habe, wie er in De-
breczin fror und hungerte, c>agegen gute Tage beim Wein und im Freundes¬
kreise zugebracht, welche Genüsse er in der Hauptstadt, wie auf dem Lande
gefunden habe, bis herab zum Geständniß, daß seine Stiefeln zerrissen gewesen,
wie er ohne Geld war und Schulden machen mußte, dies alles viel inter¬
essanter und poetischer erschien, als das Würdegefühl, die zarte Schamhaftigkeit
und der hohe Jdeenschwnng manch anderer Dichter .... Man kann das Recht
der Individualität für die Lyrik nicht leugnen. Es fragt sich immer nur, ob
diese Individualität genug interessant, genng poetisch sei. Jene PetöfiS war
eS und äußerte sie sich, so geschah es in den poetischesten Bildern und Gefühlen.
Er hatte viele Wege des Lebens Geschritten, heule als Herr, gestern alö Bett¬
ler; er erlebte Abenteuer, Schmerzen und Freuden, von welchen viele Men¬
schen kaum einen Begriff haben. Als TÄjähriger Jüngling besaß er die Er¬
sahrungen eines Dreißigers, ohne daß sein Gemüth die Elasticität verloren


Und seh ich ihn, so den! ich gleich
Des Lebens schwerster Stunde!
Nicht klar mehr weiß ich, was mir wol
Geschlagen damals Wunden,
Doch wein' und schluchz' ich so, wie ich
' Geschluchzt in jenen Stunden!

Wenn der Reiz der Neuheit und Urspninglichkeit in den humoristischen
Gedichten größer ist, so machen doch auch die ernsten Lieder durchweg den
Eindruck der Wahrheit und der Gemüthstiefe, namentlich tritt das bei den
Liebesliedern hervor, die recht aus voller Seele geschrieben sind, und die
feinsten Regungen des Herzens entfalten. Bei der Innigkeit, die sich durch¬
weg in seinen Liedern zeigt, ist Petöfis frühzeitiger Tod um so mehr zu be¬
klagen, da er zugleich außerordentlich fruchtbar war. 1823 geboren, der Sohn
eines Fleischers, kam er zuerst 18ii- nach Pesth, wo er von dem damaligen
Classiker VöröSmarty die Anerkennung erhielt, der erste Lyriker Ungarns zu
sein und l'alt auch der Liebling deS NolkeS wurde. Er hatte sich eben ver-
heirathet und lebte in den glücklichste» Verhältnissen, als die Revolution den
jungen feurigen Patrioten in ihren Strudel riß. Nach dem Treffen bei
Schaßdnrg, 3L Juli -1849, verschwand er spurlos, wahrscheinlich von räube¬
rischen Landvolk erschlagen. Die Ungarn sollen noch immer glauben, daß er
unter den Lebendigen weilt, jedenfalls wird er in seinen Liedern fortleben.
Ein tüchtiger ungarischer Kritiker, Gyulai, macht mit Recht aus die hervor¬
stechende Eigenschaft seiner Dichtung, die Offenherzigkeit, aufmerksam. „Man
war starr vor Staunen, alö ein Dichter von sich selbst solche Tinge eingestand,
deren sich viele Menschen schämen. Doch konnte niemand leugnen, daß, so¬
bald er zu erzählen begann, wie er aus der Schule durchgegangen, als ge¬
meiner Soldat und alö Komödiant herumvagabundirt habe, wie er in De-
breczin fror und hungerte, c>agegen gute Tage beim Wein und im Freundes¬
kreise zugebracht, welche Genüsse er in der Hauptstadt, wie auf dem Lande
gefunden habe, bis herab zum Geständniß, daß seine Stiefeln zerrissen gewesen,
wie er ohne Geld war und Schulden machen mußte, dies alles viel inter¬
essanter und poetischer erschien, als das Würdegefühl, die zarte Schamhaftigkeit
und der hohe Jdeenschwnng manch anderer Dichter .... Man kann das Recht
der Individualität für die Lyrik nicht leugnen. Es fragt sich immer nur, ob
diese Individualität genug interessant, genng poetisch sei. Jene PetöfiS war
eS und äußerte sie sich, so geschah es in den poetischesten Bildern und Gefühlen.
Er hatte viele Wege des Lebens Geschritten, heule als Herr, gestern alö Bett¬
ler; er erlebte Abenteuer, Schmerzen und Freuden, von welchen viele Men¬
schen kaum einen Begriff haben. Als TÄjähriger Jüngling besaß er die Er¬
sahrungen eines Dreißigers, ohne daß sein Gemüth die Elasticität verloren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/190>, abgerufen am 23.07.2024.