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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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trauen des Volkes, gleichviel ob durch Abweichung von den dem Lande wohl¬
bekannten Grundregeln chinesischer Gerechtigkeit oder durch jene von seinem
Willen nicht abhängenden Naturereignisse, so entsteht zuerst Gleichgültigkeit,
Verachtung und Unzufriedenheit, dann bilden sich Räuberbanden, es brechen
einzelne Aufstände aus, und endlich entwickelt sich eine Bewegung, die auf
einen Dynastiewechsel hinstrebt. Hat diese Bewegung nur einigen Erfolg, so
wird derselbe als Beweis angesehen, daß die herrschende Familie die göttliche
Vollmacht nicht wehr besitzt, und die Empörung gilt fortan nicht blos als
verzeihlich, sondern als vom Himmel geboten. So ist die Regierung Chinas
zwar eine entschiedene Autokratie, aber kein Despotismus. Das chinesische
Volk hat nicht daS Recht der Gesetzgebung, uicht das Recht der Selvstbefteue-
rung, aber es hat das Recht der Revolution,

China wird ferner in gewissem Sinne bureaukratisch regiert. Aber daS
Heer der Beamten hat, bevor eS zur Anstellung gelangt, seine Brauchbarkeit
durch eine Reihe strenger Prüfungen darzuthun. Alle drei Jahre werden die
Candioatcn jeder Provinz in der Hauptstadt derselben in der alten National¬
philosophie, der Sittenlehre, der Regierungskunst, NeichSgeschichie, Gesetzeskunde
und im Stil eraminirt. Sechs- bis achttausend Candidaten erscheinen bei die¬
sen Provinzialprüfuugen, aber nur etwa zwölfhundert werden zu dem Grade
eines Licentiaten, (Kiu Tschin) zugelassen. Die Licentiaten können sich dann
zu dem ebenfalls aller drei Jahre in Peking stattfindenden Examen melden,
wo durchschnittlich zweihundert den höchsten Grad, etwa unsrer Doctorwürde
vergleichbar, erlangen. Die niedrigste Censur gibt kein Anstellungsrecht, die
Zweite verleiht Anwartschaft auf einen Posten, die dritte ist mit sofortiger Er¬
nennung wenigstens zum Districtsbeamten verknüpft. Mau sieht hieraus, daß
Fülle, wo ein Stallknecht oder ein Barbier durch die Laune des Despoten zu
den höchsten Stellen erhoben wird, in China unmöglich sind. Andrerseits gibt
es hier aller auch keine Bevorzugung einzelner Stände, da Leute aller Classen
durch fleißiges Studium zur Licentiaten-, Doctoren- und Maudarinenwürde,
und, wenn das Glück sie begünstigt, zu den einflußreichsten Posten im Rathe
deö Kaisers gelangen können.

Von denen, die bei den Prüfungen keinen Grad erlangen, sind viele eher-
n'ils fähige und unterrichtete Leute, da bei der im Verhältniß zu dem Andrang
von Candidaten geringen Menge von Titeln und Aemtern nur die ausgezeich¬
netsten Bewerber berücksichtigt werden können. Diese Zurückgewiesenen treten
unter das nichtofficielle Volk zurück, und die energischeren unter ihnen spielen
^e Rolle von Demagogen, denen gegenüber die Beamten sich keine Blöße
Leben dürfen, da sie ihnen damit eine Handhabe für ihre Umtriebe bieten
würden. So aber ist der Mandarin nicht blos von oben, dnrch die "Augen
und Ohren des Kaisers", sondern auch von unten beaufsichtigt, und die letztere


trauen des Volkes, gleichviel ob durch Abweichung von den dem Lande wohl¬
bekannten Grundregeln chinesischer Gerechtigkeit oder durch jene von seinem
Willen nicht abhängenden Naturereignisse, so entsteht zuerst Gleichgültigkeit,
Verachtung und Unzufriedenheit, dann bilden sich Räuberbanden, es brechen
einzelne Aufstände aus, und endlich entwickelt sich eine Bewegung, die auf
einen Dynastiewechsel hinstrebt. Hat diese Bewegung nur einigen Erfolg, so
wird derselbe als Beweis angesehen, daß die herrschende Familie die göttliche
Vollmacht nicht wehr besitzt, und die Empörung gilt fortan nicht blos als
verzeihlich, sondern als vom Himmel geboten. So ist die Regierung Chinas
zwar eine entschiedene Autokratie, aber kein Despotismus. Das chinesische
Volk hat nicht daS Recht der Gesetzgebung, uicht das Recht der Selvstbefteue-
rung, aber es hat das Recht der Revolution,

China wird ferner in gewissem Sinne bureaukratisch regiert. Aber daS
Heer der Beamten hat, bevor eS zur Anstellung gelangt, seine Brauchbarkeit
durch eine Reihe strenger Prüfungen darzuthun. Alle drei Jahre werden die
Candioatcn jeder Provinz in der Hauptstadt derselben in der alten National¬
philosophie, der Sittenlehre, der Regierungskunst, NeichSgeschichie, Gesetzeskunde
und im Stil eraminirt. Sechs- bis achttausend Candidaten erscheinen bei die¬
sen Provinzialprüfuugen, aber nur etwa zwölfhundert werden zu dem Grade
eines Licentiaten, (Kiu Tschin) zugelassen. Die Licentiaten können sich dann
zu dem ebenfalls aller drei Jahre in Peking stattfindenden Examen melden,
wo durchschnittlich zweihundert den höchsten Grad, etwa unsrer Doctorwürde
vergleichbar, erlangen. Die niedrigste Censur gibt kein Anstellungsrecht, die
Zweite verleiht Anwartschaft auf einen Posten, die dritte ist mit sofortiger Er¬
nennung wenigstens zum Districtsbeamten verknüpft. Mau sieht hieraus, daß
Fülle, wo ein Stallknecht oder ein Barbier durch die Laune des Despoten zu
den höchsten Stellen erhoben wird, in China unmöglich sind. Andrerseits gibt
es hier aller auch keine Bevorzugung einzelner Stände, da Leute aller Classen
durch fleißiges Studium zur Licentiaten-, Doctoren- und Maudarinenwürde,
und, wenn das Glück sie begünstigt, zu den einflußreichsten Posten im Rathe
deö Kaisers gelangen können.

Von denen, die bei den Prüfungen keinen Grad erlangen, sind viele eher-
n'ils fähige und unterrichtete Leute, da bei der im Verhältniß zu dem Andrang
von Candidaten geringen Menge von Titeln und Aemtern nur die ausgezeich¬
netsten Bewerber berücksichtigt werden können. Diese Zurückgewiesenen treten
unter das nichtofficielle Volk zurück, und die energischeren unter ihnen spielen
^e Rolle von Demagogen, denen gegenüber die Beamten sich keine Blöße
Leben dürfen, da sie ihnen damit eine Handhabe für ihre Umtriebe bieten
würden. So aber ist der Mandarin nicht blos von oben, dnrch die „Augen
und Ohren des Kaisers", sondern auch von unten beaufsichtigt, und die letztere


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/173>, abgerufen am 23.07.2024.