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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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noch moralisch, noch treu nach galanten Grundsätzen, und es ist sehr sonder¬
bar, daß der Kaiser Leo PhilosophuS die Reinheit und'Ehrbarkeit dieses Wer¬
kes lobt." Longus läßt den Daphnis allerdings nur eine Untreue begehen, um
die naive Hirteneinfalt desselben zu zeigen. Aber ein Romanheld, der bis zu
diesem Grade unwissend ist, kann jedenfalls nicht prätendiren, andern ein Tu¬
gendmuster zu sein. Auch läßt Longus in der merkwürdigen Stelle seiner Vor¬
rede, in der er sich über den Zweck seines Buches ausspricht, nichts von jener
moralischen Absicht ahnen. "Als ich in Lesbos," erzählt er, "dieses Gemälde
erblickte, ergriff mich das Verlangen, dazu ein Buch als Seitenstück zu schreiben.
Ich suchte mir einen Erklärer und arbeitete dies Werk aus, ein Weihgeschenk
dem Eros, den Nymphen und dem Pan; ein Werk, das allen Menschen lieb
sein muß, das den Kranken heilen, den Betrübten trösten, an die vergangene
Liebe eine Erinnerung sein wird, den mit der Liebe Unbekannten bildet. Denn
Keiner entfloh noch der Liebe oder wird ihr entfliehen, so lange eS Schönheit
gibt und Augen sehen." Der Zweck dieser Romane ist vielmehr derselbe, wie
der aller andern Dichtungen, die aus der jüngern Sophistik hervorgingen.
Sie sind Schaustücke, erfunden um die eigne Stilgewandtheit und Viel¬
wissern vor einem sophistisch gebildeten Publicum auszubreiten. Sie gehören
der Schule, aber nicht der Nation und enthalten deshalb kein wirkliches Lebens¬
bild. Wir hätten durch sie in das innerste Leben des griechischen Hauses und
der damaligen Gesellschaft eingeführt werden müssen. Statt dessen enthalten
sie so ungewisse und allgemeine Züge, daß man z. B. nicht einmal erkennen
kann, ob Heliodor uns das freie oder unterworfene Athen zeigen will. Der
König von Äthiopier gleicht vollständig den persischen oder armenischen Königen
in den Romanen der Scuvvri und gehört keinem Lande und keiner Zeit an.
Tausend kleine Züge aus dem griechischen Leben, die uns verloren sind, hätten
sich ungezwungen in diese Werke einreihen müssen; aber die Menschen dieser
Romane sind nur Marionetten, durch die stets der Verfasser zu uns spricht;
äußerlich bunt und verschieden aufgeputzt, innen immer aus Holz.

Man könnte einen Widerspruch darin finden, daß der griechische Roman
einerseits mit und durch den Aufschwung, den daS Privatleben der Griechen
nahm, ins Leben gerufen wurde, also innerlich mit der Entwicklungsgeschichte
des griechischen Volkes zusammenhängen müßte, und doch andererseits uns
keinen belehrenden Blick in dies Privatleben gönnt. Dieser scheinbare Wider¬
spruch löst sich, wenn man erwägt, daß die Sophisten in ihren Romanen aller¬
dings diesen Umschwung des Privatlebens voraussetzten, baß sie aber dem Schul¬
gerechtem Spiel ihrer Phantasie eine größere Bedeutung als dem wirklichen
Leben zuschrieben und deshalb auf dem Boden dieses Privatlebens ein rein
phantastisches Gebäude aufführten. Sie deuteten daS öffentliche Interesse, wel¬
ches damals die Privatverhältnisse zu. erregen anfingen, in dem engen Hori-


noch moralisch, noch treu nach galanten Grundsätzen, und es ist sehr sonder¬
bar, daß der Kaiser Leo PhilosophuS die Reinheit und'Ehrbarkeit dieses Wer¬
kes lobt." Longus läßt den Daphnis allerdings nur eine Untreue begehen, um
die naive Hirteneinfalt desselben zu zeigen. Aber ein Romanheld, der bis zu
diesem Grade unwissend ist, kann jedenfalls nicht prätendiren, andern ein Tu¬
gendmuster zu sein. Auch läßt Longus in der merkwürdigen Stelle seiner Vor¬
rede, in der er sich über den Zweck seines Buches ausspricht, nichts von jener
moralischen Absicht ahnen. „Als ich in Lesbos," erzählt er, „dieses Gemälde
erblickte, ergriff mich das Verlangen, dazu ein Buch als Seitenstück zu schreiben.
Ich suchte mir einen Erklärer und arbeitete dies Werk aus, ein Weihgeschenk
dem Eros, den Nymphen und dem Pan; ein Werk, das allen Menschen lieb
sein muß, das den Kranken heilen, den Betrübten trösten, an die vergangene
Liebe eine Erinnerung sein wird, den mit der Liebe Unbekannten bildet. Denn
Keiner entfloh noch der Liebe oder wird ihr entfliehen, so lange eS Schönheit
gibt und Augen sehen." Der Zweck dieser Romane ist vielmehr derselbe, wie
der aller andern Dichtungen, die aus der jüngern Sophistik hervorgingen.
Sie sind Schaustücke, erfunden um die eigne Stilgewandtheit und Viel¬
wissern vor einem sophistisch gebildeten Publicum auszubreiten. Sie gehören
der Schule, aber nicht der Nation und enthalten deshalb kein wirkliches Lebens¬
bild. Wir hätten durch sie in das innerste Leben des griechischen Hauses und
der damaligen Gesellschaft eingeführt werden müssen. Statt dessen enthalten
sie so ungewisse und allgemeine Züge, daß man z. B. nicht einmal erkennen
kann, ob Heliodor uns das freie oder unterworfene Athen zeigen will. Der
König von Äthiopier gleicht vollständig den persischen oder armenischen Königen
in den Romanen der Scuvvri und gehört keinem Lande und keiner Zeit an.
Tausend kleine Züge aus dem griechischen Leben, die uns verloren sind, hätten
sich ungezwungen in diese Werke einreihen müssen; aber die Menschen dieser
Romane sind nur Marionetten, durch die stets der Verfasser zu uns spricht;
äußerlich bunt und verschieden aufgeputzt, innen immer aus Holz.

Man könnte einen Widerspruch darin finden, daß der griechische Roman
einerseits mit und durch den Aufschwung, den daS Privatleben der Griechen
nahm, ins Leben gerufen wurde, also innerlich mit der Entwicklungsgeschichte
des griechischen Volkes zusammenhängen müßte, und doch andererseits uns
keinen belehrenden Blick in dies Privatleben gönnt. Dieser scheinbare Wider¬
spruch löst sich, wenn man erwägt, daß die Sophisten in ihren Romanen aller¬
dings diesen Umschwung des Privatlebens voraussetzten, baß sie aber dem Schul¬
gerechtem Spiel ihrer Phantasie eine größere Bedeutung als dem wirklichen
Leben zuschrieben und deshalb auf dem Boden dieses Privatlebens ein rein
phantastisches Gebäude aufführten. Sie deuteten daS öffentliche Interesse, wel¬
ches damals die Privatverhältnisse zu. erregen anfingen, in dem engen Hori-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/78>, abgerufen am 01.10.2024.