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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Verhältnisse von seinen Beziehungen zum Staate erdrückt wurden, war endlich
zusammengestürzt. Die Sophisten selbst hatten am thätigsten den alten Staat
minirt. Mit dem Satze des ProtagoraS, "der Mensch ist das Maß aller
Dinge" hatten sie den Einzelnen gelehrt, sich und sein subjectives Belieben
über das Allgemeine und Ganze zu erheben und seine Privatverhältnisse hoher
zu schätzen als die Satzungen deS Staats. Kein Wunder, daß sie grade an¬
singen, diesen Privatverhältnissen auch in der Literatur ihr Recht zu verschaffen.
Nun hatte man schon früher kleinere Scenen aus dem gesellschaftlichen Leben,
Genrebilder in Form elegant geschriebener Briefe, die Situationen aus dem Leben
von Hetären, Fischern, Parasiten schilderten, dargestellt. Von hier aus versuchte
man sich nun an einem großem Bilde und reckte danach den engen Rahmen
des Briefes auseinander. Man kann die Schrift "Erotikos" des Plutarch
als Durchgangspunkt betrachten zwischen der rein philosophischen Behandlung
der Liebe und der romanhaften Ausbeutung dieses Themas. Der ErotikoS ist
ein Dialog über die Liebe im Stil der alten Philosophen; aber an das Ende
desselben fügte Plutarch verschiedene Erzählungen von Liebesverhältnissen, um
die im Dialog aufgestellten Behauptungen nachzuweisen. Der Unterschied ist
nur der, daß die Sophisten die Liebesabenteuer nicht von den Philosophemen
über die Liebe trennten und rein äußerlich auf sie folgen ließen, sondern mit
ihnen innerlich und organisch zu verbinden suchten. Ein speculativer Buchhänd¬
ler soll die Kunsttheorien, die in HeinseS Arbinghello enthalten sind, von der
Fabel des Romans losgeschält und abgesondert herausgegeben haben. Die
Sophisten thaten grade das Gegentheil. Sie durchflochten ihre Theorien mit
einer Fabel, um an dieser die Wahrheit jener zu erweisen.

Die griechischen Romane sind phantastisch ersonnene Erzäh¬
lungen, in denen sich alle "die in den Sophistenschulen erlernten
Kunststücke, Proceßreden, Briefe, Schilderungen, Erklärung
und Darstellung von Seelenzuständen anbringen ließen. Die
Schilderung wird, wie es auch im Wesen der Sophistik lag, in diesen Roma¬
nen Selbstzweck. Der fromme Patriarch Photius irrt, wenn er behauptet, man
könne aus ihnen die Doppelwahrheit lernen, daß der Uebelthäter, auch wenn
er tausendmal zu entfliehen schiene, doch zuletzt büßen müsse, und daß der Un¬
schuldige oft, wenn die Noth am größten sei, unerwartet gerettet werde. In
diesen Romanen ist jeder Charakter, der einigermaßen hervortritt, mit schweren
Vergehungen befleckt. Chäriklea entflieht ihrem liebevollen Pflegevater ohne
großen Seelenkampf; Theageneö raubte eine Priesterin der Artemis; der Prie¬
ster KalasiriS verräth schändlich die Gastfreundschaft, die ihn mit dem alten
Priester Charikles verknüpfte; Perstna, die Königin von Aethiopien, verstößt
in feiger Furcht ihre Tochter u. f. w. "Klitophonsagt der gelehrte Bischof
Huck von Arranches in seines Urtheil über diese Romane, "ist weder ehrbar


Verhältnisse von seinen Beziehungen zum Staate erdrückt wurden, war endlich
zusammengestürzt. Die Sophisten selbst hatten am thätigsten den alten Staat
minirt. Mit dem Satze des ProtagoraS, „der Mensch ist das Maß aller
Dinge" hatten sie den Einzelnen gelehrt, sich und sein subjectives Belieben
über das Allgemeine und Ganze zu erheben und seine Privatverhältnisse hoher
zu schätzen als die Satzungen deS Staats. Kein Wunder, daß sie grade an¬
singen, diesen Privatverhältnissen auch in der Literatur ihr Recht zu verschaffen.
Nun hatte man schon früher kleinere Scenen aus dem gesellschaftlichen Leben,
Genrebilder in Form elegant geschriebener Briefe, die Situationen aus dem Leben
von Hetären, Fischern, Parasiten schilderten, dargestellt. Von hier aus versuchte
man sich nun an einem großem Bilde und reckte danach den engen Rahmen
des Briefes auseinander. Man kann die Schrift „Erotikos" des Plutarch
als Durchgangspunkt betrachten zwischen der rein philosophischen Behandlung
der Liebe und der romanhaften Ausbeutung dieses Themas. Der ErotikoS ist
ein Dialog über die Liebe im Stil der alten Philosophen; aber an das Ende
desselben fügte Plutarch verschiedene Erzählungen von Liebesverhältnissen, um
die im Dialog aufgestellten Behauptungen nachzuweisen. Der Unterschied ist
nur der, daß die Sophisten die Liebesabenteuer nicht von den Philosophemen
über die Liebe trennten und rein äußerlich auf sie folgen ließen, sondern mit
ihnen innerlich und organisch zu verbinden suchten. Ein speculativer Buchhänd¬
ler soll die Kunsttheorien, die in HeinseS Arbinghello enthalten sind, von der
Fabel des Romans losgeschält und abgesondert herausgegeben haben. Die
Sophisten thaten grade das Gegentheil. Sie durchflochten ihre Theorien mit
einer Fabel, um an dieser die Wahrheit jener zu erweisen.

Die griechischen Romane sind phantastisch ersonnene Erzäh¬
lungen, in denen sich alle »die in den Sophistenschulen erlernten
Kunststücke, Proceßreden, Briefe, Schilderungen, Erklärung
und Darstellung von Seelenzuständen anbringen ließen. Die
Schilderung wird, wie es auch im Wesen der Sophistik lag, in diesen Roma¬
nen Selbstzweck. Der fromme Patriarch Photius irrt, wenn er behauptet, man
könne aus ihnen die Doppelwahrheit lernen, daß der Uebelthäter, auch wenn
er tausendmal zu entfliehen schiene, doch zuletzt büßen müsse, und daß der Un¬
schuldige oft, wenn die Noth am größten sei, unerwartet gerettet werde. In
diesen Romanen ist jeder Charakter, der einigermaßen hervortritt, mit schweren
Vergehungen befleckt. Chäriklea entflieht ihrem liebevollen Pflegevater ohne
großen Seelenkampf; Theageneö raubte eine Priesterin der Artemis; der Prie¬
ster KalasiriS verräth schändlich die Gastfreundschaft, die ihn mit dem alten
Priester Charikles verknüpfte; Perstna, die Königin von Aethiopien, verstößt
in feiger Furcht ihre Tochter u. f. w. „Klitophonsagt der gelehrte Bischof
Huck von Arranches in seines Urtheil über diese Romane, „ist weder ehrbar


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[0077] Verhältnisse von seinen Beziehungen zum Staate erdrückt wurden, war endlich zusammengestürzt. Die Sophisten selbst hatten am thätigsten den alten Staat minirt. Mit dem Satze des ProtagoraS, „der Mensch ist das Maß aller Dinge" hatten sie den Einzelnen gelehrt, sich und sein subjectives Belieben über das Allgemeine und Ganze zu erheben und seine Privatverhältnisse hoher zu schätzen als die Satzungen deS Staats. Kein Wunder, daß sie grade an¬ singen, diesen Privatverhältnissen auch in der Literatur ihr Recht zu verschaffen. Nun hatte man schon früher kleinere Scenen aus dem gesellschaftlichen Leben, Genrebilder in Form elegant geschriebener Briefe, die Situationen aus dem Leben von Hetären, Fischern, Parasiten schilderten, dargestellt. Von hier aus versuchte man sich nun an einem großem Bilde und reckte danach den engen Rahmen des Briefes auseinander. Man kann die Schrift „Erotikos" des Plutarch als Durchgangspunkt betrachten zwischen der rein philosophischen Behandlung der Liebe und der romanhaften Ausbeutung dieses Themas. Der ErotikoS ist ein Dialog über die Liebe im Stil der alten Philosophen; aber an das Ende desselben fügte Plutarch verschiedene Erzählungen von Liebesverhältnissen, um die im Dialog aufgestellten Behauptungen nachzuweisen. Der Unterschied ist nur der, daß die Sophisten die Liebesabenteuer nicht von den Philosophemen über die Liebe trennten und rein äußerlich auf sie folgen ließen, sondern mit ihnen innerlich und organisch zu verbinden suchten. Ein speculativer Buchhänd¬ ler soll die Kunsttheorien, die in HeinseS Arbinghello enthalten sind, von der Fabel des Romans losgeschält und abgesondert herausgegeben haben. Die Sophisten thaten grade das Gegentheil. Sie durchflochten ihre Theorien mit einer Fabel, um an dieser die Wahrheit jener zu erweisen. Die griechischen Romane sind phantastisch ersonnene Erzäh¬ lungen, in denen sich alle »die in den Sophistenschulen erlernten Kunststücke, Proceßreden, Briefe, Schilderungen, Erklärung und Darstellung von Seelenzuständen anbringen ließen. Die Schilderung wird, wie es auch im Wesen der Sophistik lag, in diesen Roma¬ nen Selbstzweck. Der fromme Patriarch Photius irrt, wenn er behauptet, man könne aus ihnen die Doppelwahrheit lernen, daß der Uebelthäter, auch wenn er tausendmal zu entfliehen schiene, doch zuletzt büßen müsse, und daß der Un¬ schuldige oft, wenn die Noth am größten sei, unerwartet gerettet werde. In diesen Romanen ist jeder Charakter, der einigermaßen hervortritt, mit schweren Vergehungen befleckt. Chäriklea entflieht ihrem liebevollen Pflegevater ohne großen Seelenkampf; Theageneö raubte eine Priesterin der Artemis; der Prie¬ ster KalasiriS verräth schändlich die Gastfreundschaft, die ihn mit dem alten Priester Charikles verknüpfte; Perstna, die Königin von Aethiopien, verstößt in feiger Furcht ihre Tochter u. f. w. „Klitophonsagt der gelehrte Bischof Huck von Arranches in seines Urtheil über diese Romane, „ist weder ehrbar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/77>, abgerufen am 01.10.2024.