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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Die jüngere Sophistik ist im Ganzen dem Charakter der ältern treu ge¬
blieben, und hat ihn bis in die geschmacklosesten Consequenzen entwickelt, nur
daß sie sich den veränderten Zeiten und Zuständen fügte. Die Ältere Sophistik
theilte mit der Philosophie denselben Stoff, sie bemächtigte sich aller Interessen
des öffentlichen Lebens, sie hat sogar den unbestreitbaren Ruhm, sich nicht
vom Wolke abgeschlossen, sondern die Bildung desselben wesentlich gefördert zu
haben. Aber das zweite Jahrhundert n. Chr. (denn mit diesem beginnt die
Blüte der jüngern Sophistik) duldete das Interesse am Staate nicht mehr,
verfolgte die Wissenschaft, die zur Freiheit des Geistes und zur Unabhängigkeit
des Charakters führen konnte, und schloß die Tribüne der öffentlichen Rede.
Es erlaubte dagegen die üppigste Entfaltung des Privatlebens. Die Theil¬
nahme am Staate ward ersetzt durch das Interesse an der Familie. Die
Wissenschaft wurde sterile Liebhaberei für unschuldige Dinge, ausgenommen
Wissenschaften wie Jurisprudenz, Mathematik, Medicin, Geographie, die
weder die Frische productiver Phantasie noch Sinn für Freiheit verlangen.
Die jüngere Sophistik beantwortete deshalb keine Fragen aus dem Gebiete
der Politik, aber behandelte alles, was das Privatleben und die Nhetvrenschule
interessiren konnte. Mit einem unglaublichen Eifer und ohne Furcht vor den
langwierigsten geistigen Kasteiungen, strebte sie namentlich nach kunstvoller
Form der Rede. Diese Vergötterung der schönen, vom Inhalt fast abgelösten
Form bildete die schiefe Ebene, auf welcher die jüngere Sophistik in ein leeres,
aber prächtig verhülltes Nichts hinabrannte.

Man kann zwar nicht leugnen, daß sie auch ihre Verdienste gehabt hat.
Sie erhielt die Liebe zu den alten Schriftstellern, erwarb sich wissenschaftliche
Verdienste um die Sprache, sie machte die Ergebnisse der alcraudrinischen
Gelehrtenperiode allgemein verständlich; doch das alles sichert ihr nur einen
höhern Rang in der Geschichte der wissenschaftlichen Literatur. Aber in
der Geschichte der schönen Literatur bedeutet sie die Periode der geistigen Er¬
mattung. Der Mangel an schöpferischer Phantasie, an greifbaren und neuen
Gedanken kann durch das Flittergold der Darstellung versteckt, aber nicht ersetzt
werden. -- ES ist sehr natürlich, daß grade die jüngern Sophisten zur Er¬
findung des Romans geführt wurden. Von den Philosophen in Dialvgenfonn
vielfach behandelt, von der neuern Komödie als unerschöpfliches Motiv ein¬
geführt, mußte ein immer interessantes Thema wie die Liebe in hohem Grade
die Aufmerksamkeit der Sophisten fesseln, der Sophisten, die stets nach einem
ungefährliche", wenigstens für den Staat ungefährlichen Stoffe suchten. Die
sich immer mehr entfaltende Bedeutung der gesellschaftlichen Berhältnisse, mit
denen zugleich daS Gewicht der Ehe und der Liebe wuchs, lenkte gleichfalls
ihren Blick auf dies Thema. Die alte griechische Staatsordnung, in der der
Mensch nicht als Mensch, sondern nur als Bürger zählte, in der seine Privat-


Die jüngere Sophistik ist im Ganzen dem Charakter der ältern treu ge¬
blieben, und hat ihn bis in die geschmacklosesten Consequenzen entwickelt, nur
daß sie sich den veränderten Zeiten und Zuständen fügte. Die Ältere Sophistik
theilte mit der Philosophie denselben Stoff, sie bemächtigte sich aller Interessen
des öffentlichen Lebens, sie hat sogar den unbestreitbaren Ruhm, sich nicht
vom Wolke abgeschlossen, sondern die Bildung desselben wesentlich gefördert zu
haben. Aber das zweite Jahrhundert n. Chr. (denn mit diesem beginnt die
Blüte der jüngern Sophistik) duldete das Interesse am Staate nicht mehr,
verfolgte die Wissenschaft, die zur Freiheit des Geistes und zur Unabhängigkeit
des Charakters führen konnte, und schloß die Tribüne der öffentlichen Rede.
Es erlaubte dagegen die üppigste Entfaltung des Privatlebens. Die Theil¬
nahme am Staate ward ersetzt durch das Interesse an der Familie. Die
Wissenschaft wurde sterile Liebhaberei für unschuldige Dinge, ausgenommen
Wissenschaften wie Jurisprudenz, Mathematik, Medicin, Geographie, die
weder die Frische productiver Phantasie noch Sinn für Freiheit verlangen.
Die jüngere Sophistik beantwortete deshalb keine Fragen aus dem Gebiete
der Politik, aber behandelte alles, was das Privatleben und die Nhetvrenschule
interessiren konnte. Mit einem unglaublichen Eifer und ohne Furcht vor den
langwierigsten geistigen Kasteiungen, strebte sie namentlich nach kunstvoller
Form der Rede. Diese Vergötterung der schönen, vom Inhalt fast abgelösten
Form bildete die schiefe Ebene, auf welcher die jüngere Sophistik in ein leeres,
aber prächtig verhülltes Nichts hinabrannte.

Man kann zwar nicht leugnen, daß sie auch ihre Verdienste gehabt hat.
Sie erhielt die Liebe zu den alten Schriftstellern, erwarb sich wissenschaftliche
Verdienste um die Sprache, sie machte die Ergebnisse der alcraudrinischen
Gelehrtenperiode allgemein verständlich; doch das alles sichert ihr nur einen
höhern Rang in der Geschichte der wissenschaftlichen Literatur. Aber in
der Geschichte der schönen Literatur bedeutet sie die Periode der geistigen Er¬
mattung. Der Mangel an schöpferischer Phantasie, an greifbaren und neuen
Gedanken kann durch das Flittergold der Darstellung versteckt, aber nicht ersetzt
werden. — ES ist sehr natürlich, daß grade die jüngern Sophisten zur Er¬
findung des Romans geführt wurden. Von den Philosophen in Dialvgenfonn
vielfach behandelt, von der neuern Komödie als unerschöpfliches Motiv ein¬
geführt, mußte ein immer interessantes Thema wie die Liebe in hohem Grade
die Aufmerksamkeit der Sophisten fesseln, der Sophisten, die stets nach einem
ungefährliche», wenigstens für den Staat ungefährlichen Stoffe suchten. Die
sich immer mehr entfaltende Bedeutung der gesellschaftlichen Berhältnisse, mit
denen zugleich daS Gewicht der Ehe und der Liebe wuchs, lenkte gleichfalls
ihren Blick auf dies Thema. Die alte griechische Staatsordnung, in der der
Mensch nicht als Mensch, sondern nur als Bürger zählte, in der seine Privat-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/76>, abgerufen am 12.12.2024.