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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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thymna entführt, wenn nicht Gott Pan selbst den Feinden Schrecken eingejagt
hätte und zuletzt würde Daphnis den Pflegevater der Chloe doch nicht be¬
wegen, ihm diese zu verloben, wenn er nicht durch die Gefälligkeit der Nym¬
phen 3000 Drachmen gefunden hätte.

Die Unwahrheit, welche die Grundlage fast aller Jdyllenpoeste zu sein
scheint, steigert sich in diesem Romane zuweilen bis zur Absurdität. Theokrit
schuf eine Hirtenwelt, die uns oft .vergessen läßt, daß sie nur eine liebliche
Phantasie ist. Longus fabricirt einen Roman, der viel für die Belesenheit,
viel für die Stilgewandtheit des Verfassers beweist, durch seine Löcher und
Risse aber jede Illusion für die Leser zerstört. Theokrit kannte doch das Leben,
das er in idealisirten Bildern zeichnete, Longus kennt daS Hirtenleben nur
unter der unstchern Beleuchtung seiner Studirlampe. Theokrit ist immer
lebenswarm und naturkräftig > Longus immer Pedant, oft kindisch. Er hat
wenig Anschauungen, die aus dem Leben gegriffen wären; aber er hat viel
gelernt; er hat die Natur grade so gelernt, wie seinen zuweilen wunderbar
schönen Stil. Da aber Bücher nicht die Quelle für jedes Wissen, sein können,
da er seine Gelehrsamkeit nicht durch das Leben berichtigt, so ist er ohne Wahr¬
heit und Wahrscheinlichkeit. "Wenn sich jemand zu Tisch setzt", sagt der oben
erwähnte Koraeö über diesen Roman, so will er zunächst essen, und die Pracht
des Geräthes ist von untergeordneter Bedeutung. Wenn aber statt der Speisen
nur goldene Schüsseln präsentirt werden, so steht er zornig auf und schilt den
Wirth einen Verrückten. Aus dem Tische des Midas verwandelte sich alles
>n Gold uno er starb fast vor Hunger. Longus ist wie der Redner, von dem
ein Spartaner sagte: Beim Zeus, das ist ein gewaltiger Mann! Ueber nichts
dreht er herrlich die Zunge!" --

Aber was für Männer waren die Verfasser dieser Romane? Welchem
Zweige literarischer Thätigkeit gesellten die Griechen diese Werke zu? Auch der
flüchtigste Blick aus die Fabel dieser Dichtungen führt wenigstens zu dem
negativen Resultate, daß sie nicht aus dem Epos geboren sind. Der mittel¬
alterliche Roman hatte eine so bewußt epische und ausgeprägt historische Natur,
daß er selbst dann, wenn er den antiken Boden betrat, dort sagenhafte oder
historische Stoffe ergriff. Denn es finden sich vom 12--13 Iste. wol ein
wmim ä'^iexizmäre von Lsmdurt ki t.:ors, ein roman cle 't'lvie. ein livro an
preux et vaillant ^son et av la KeUe Neclee, aber niemand dachte daran,
d>e fertig vorliegenden griechischen Romane zu benutzen. Was uns aber die
Zabel dieser Werke nicht sagt, das erkennen wir aus der Sprache und dem
gelehrten Beiwerk dieser Dichtungen mit zweifelloser Gewißheit. Obgleich
Heliodor, Tatius und Longus in einer Zeit lebten, wo die griechische Sprache
schon in die Periode ihres Verfalles eingetreten war, so zeichnen sich "och alle
drei durch ihren auffallend reinen Stil aus, einen Stil, der in solchen Jahr-


Greuzboten III. 1L67. 9

thymna entführt, wenn nicht Gott Pan selbst den Feinden Schrecken eingejagt
hätte und zuletzt würde Daphnis den Pflegevater der Chloe doch nicht be¬
wegen, ihm diese zu verloben, wenn er nicht durch die Gefälligkeit der Nym¬
phen 3000 Drachmen gefunden hätte.

Die Unwahrheit, welche die Grundlage fast aller Jdyllenpoeste zu sein
scheint, steigert sich in diesem Romane zuweilen bis zur Absurdität. Theokrit
schuf eine Hirtenwelt, die uns oft .vergessen läßt, daß sie nur eine liebliche
Phantasie ist. Longus fabricirt einen Roman, der viel für die Belesenheit,
viel für die Stilgewandtheit des Verfassers beweist, durch seine Löcher und
Risse aber jede Illusion für die Leser zerstört. Theokrit kannte doch das Leben,
das er in idealisirten Bildern zeichnete, Longus kennt daS Hirtenleben nur
unter der unstchern Beleuchtung seiner Studirlampe. Theokrit ist immer
lebenswarm und naturkräftig > Longus immer Pedant, oft kindisch. Er hat
wenig Anschauungen, die aus dem Leben gegriffen wären; aber er hat viel
gelernt; er hat die Natur grade so gelernt, wie seinen zuweilen wunderbar
schönen Stil. Da aber Bücher nicht die Quelle für jedes Wissen, sein können,
da er seine Gelehrsamkeit nicht durch das Leben berichtigt, so ist er ohne Wahr¬
heit und Wahrscheinlichkeit. „Wenn sich jemand zu Tisch setzt", sagt der oben
erwähnte Koraeö über diesen Roman, so will er zunächst essen, und die Pracht
des Geräthes ist von untergeordneter Bedeutung. Wenn aber statt der Speisen
nur goldene Schüsseln präsentirt werden, so steht er zornig auf und schilt den
Wirth einen Verrückten. Aus dem Tische des Midas verwandelte sich alles
>n Gold uno er starb fast vor Hunger. Longus ist wie der Redner, von dem
ein Spartaner sagte: Beim Zeus, das ist ein gewaltiger Mann! Ueber nichts
dreht er herrlich die Zunge!" —

Aber was für Männer waren die Verfasser dieser Romane? Welchem
Zweige literarischer Thätigkeit gesellten die Griechen diese Werke zu? Auch der
flüchtigste Blick aus die Fabel dieser Dichtungen führt wenigstens zu dem
negativen Resultate, daß sie nicht aus dem Epos geboren sind. Der mittel¬
alterliche Roman hatte eine so bewußt epische und ausgeprägt historische Natur,
daß er selbst dann, wenn er den antiken Boden betrat, dort sagenhafte oder
historische Stoffe ergriff. Denn es finden sich vom 12—13 Iste. wol ein
wmim ä'^iexizmäre von Lsmdurt ki t.:ors, ein roman cle 't'lvie. ein livro an
preux et vaillant ^son et av la KeUe Neclee, aber niemand dachte daran,
d>e fertig vorliegenden griechischen Romane zu benutzen. Was uns aber die
Zabel dieser Werke nicht sagt, das erkennen wir aus der Sprache und dem
gelehrten Beiwerk dieser Dichtungen mit zweifelloser Gewißheit. Obgleich
Heliodor, Tatius und Longus in einer Zeit lebten, wo die griechische Sprache
schon in die Periode ihres Verfalles eingetreten war, so zeichnen sich »och alle
drei durch ihren auffallend reinen Stil aus, einen Stil, der in solchen Jahr-


Greuzboten III. 1L67. 9
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[0073] thymna entführt, wenn nicht Gott Pan selbst den Feinden Schrecken eingejagt hätte und zuletzt würde Daphnis den Pflegevater der Chloe doch nicht be¬ wegen, ihm diese zu verloben, wenn er nicht durch die Gefälligkeit der Nym¬ phen 3000 Drachmen gefunden hätte. Die Unwahrheit, welche die Grundlage fast aller Jdyllenpoeste zu sein scheint, steigert sich in diesem Romane zuweilen bis zur Absurdität. Theokrit schuf eine Hirtenwelt, die uns oft .vergessen läßt, daß sie nur eine liebliche Phantasie ist. Longus fabricirt einen Roman, der viel für die Belesenheit, viel für die Stilgewandtheit des Verfassers beweist, durch seine Löcher und Risse aber jede Illusion für die Leser zerstört. Theokrit kannte doch das Leben, das er in idealisirten Bildern zeichnete, Longus kennt daS Hirtenleben nur unter der unstchern Beleuchtung seiner Studirlampe. Theokrit ist immer lebenswarm und naturkräftig > Longus immer Pedant, oft kindisch. Er hat wenig Anschauungen, die aus dem Leben gegriffen wären; aber er hat viel gelernt; er hat die Natur grade so gelernt, wie seinen zuweilen wunderbar schönen Stil. Da aber Bücher nicht die Quelle für jedes Wissen, sein können, da er seine Gelehrsamkeit nicht durch das Leben berichtigt, so ist er ohne Wahr¬ heit und Wahrscheinlichkeit. „Wenn sich jemand zu Tisch setzt", sagt der oben erwähnte Koraeö über diesen Roman, so will er zunächst essen, und die Pracht des Geräthes ist von untergeordneter Bedeutung. Wenn aber statt der Speisen nur goldene Schüsseln präsentirt werden, so steht er zornig auf und schilt den Wirth einen Verrückten. Aus dem Tische des Midas verwandelte sich alles >n Gold uno er starb fast vor Hunger. Longus ist wie der Redner, von dem ein Spartaner sagte: Beim Zeus, das ist ein gewaltiger Mann! Ueber nichts dreht er herrlich die Zunge!" — Aber was für Männer waren die Verfasser dieser Romane? Welchem Zweige literarischer Thätigkeit gesellten die Griechen diese Werke zu? Auch der flüchtigste Blick aus die Fabel dieser Dichtungen führt wenigstens zu dem negativen Resultate, daß sie nicht aus dem Epos geboren sind. Der mittel¬ alterliche Roman hatte eine so bewußt epische und ausgeprägt historische Natur, daß er selbst dann, wenn er den antiken Boden betrat, dort sagenhafte oder historische Stoffe ergriff. Denn es finden sich vom 12—13 Iste. wol ein wmim ä'^iexizmäre von Lsmdurt ki t.:ors, ein roman cle 't'lvie. ein livro an preux et vaillant ^son et av la KeUe Neclee, aber niemand dachte daran, d>e fertig vorliegenden griechischen Romane zu benutzen. Was uns aber die Zabel dieser Werke nicht sagt, das erkennen wir aus der Sprache und dem gelehrten Beiwerk dieser Dichtungen mit zweifelloser Gewißheit. Obgleich Heliodor, Tatius und Longus in einer Zeit lebten, wo die griechische Sprache schon in die Periode ihres Verfalles eingetreten war, so zeichnen sich »och alle drei durch ihren auffallend reinen Stil aus, einen Stil, der in solchen Jahr- Greuzboten III. 1L67. 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/73>, abgerufen am 02.10.2024.