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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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sündigt. Seine parteiischsten Anhänger werden zugestehen müssen, daß ein Ab¬
grund war zwischen der Art, wie er sich an der Ausführung des Messias und an
der der schubertschen Symphonie, der Cantate von Bach und des Werkes von
Berlioz, der Ouvertüre von Mendelssohn und der von Wagner betheiligte.
Den Messias kannte er offenbar nicht einmal genau, was sich, abgesehen von
seiner Unsicherheit in der Angabe der Tempi, in einer großen Anzahl musikali¬
scher Verstöße und Unsicherheiten zeigte, für deren Aufzählung hier nicht der
Platz ist. Von einem Durchdrungensein der hohen Aufgabe, in die Aufführung
eines solchen Werkes Schwung und Begeisterung zu bringen, war gar nicht
die Rede, es war eine Concession an ein unvermeidliches, noch nicht todt zu
machendes Vorurtheil, die ihm auferlegt war und deren er sich entledigte. Für
die feinere Ausführung der handhaben Cantate that er auch nichts, als daß er
einige falsche Noten corrigiren ließ, wobei seine anfänglichen Zweifel wiederum
Zeigten, wie wenig er sich damit vertraut gemacht hatte. Wir dürfen ihm dies
indeß so hoch nicht anrechnen; denn leider blieb er auch bei denjenigen Werken,
denen er sich mit offenbarer Wärme zuwandte, wenn wir höchstens die Tann-
häuserouverture ausnehmen, weit hinter seiner Aufgabe zurück. Zu einem ver¬
hältnißmäßig günstigen Resultate gelangte er eigentlich nur, wenn er zu "der
Stelle eines Taktprofoßes herabsank" und in einem seinem feurigen Tempera¬
mente angemessenen Tempo ein Stück ohne viel Federnlesens abspielen ließ, wie
Z. B. das Finale der Symphonie von Schubert. Wo es irgend darauf ankam,
>n die Einzelnheiten zu gehen, z. B. in dem Andante desselben Werkes, leistete
er verwunderungswürdig wenig. So z. B. hörte man beim Auftreten des
zweiten Hauptsatzes (in ? vur) nichts von der Melodie, weil die Violoncelle
alles todt machten, und ebensowenig kam diese bei ihrer Wiederkehr in ^ vur
zum Vorschein weil die Streicher die Bläser nicht zu Wort kommen ließen.
Dergleichen Beispiele könnten wir noch viele anführen, müßten wir nicht fürch¬
ten, die Geduld der Leser zu ermüden. Man kann nicht weniger mittheilsam
sein, als Liszt es seinem Orchester gegenüber war; einige wenige NitartandoS und
tgi- ausgenommen unterbrach er die Probe fast immer nur, wenn man aus¬
einander war oder wenn falsch gespielt wurde; während man spielte oder sang,
machte er nie eine Bemerkung, und wenn eS irgend vorwärts ging, so blieb
^ dabei. Für diejenigen, welche im vorigen Jahre den Proben unter Rietz
Düsseldorf beigewohnt hatten, war die eilfertige Manier, in welcher dies Mal
das Meiste abgefertigt wurde, ganz und gar unbegreiflich.

Von dem "Fortschritt im Stil der Ausführung", den Liszt sich fast als eine
persönliche Angelegenheit im eben angeführten Briefe zueignet, ließ sich bei
seiner Direction des aachener Musikfestes nichts merken, und Mendelssohn,
Habeneck, Nicolai und gar manche andere haben längst hierin unvergleichlich
Bedeutenderes geleistet. Was Liszt damit sagen will, daß sich der Kapell-


Grenzboten. III. 8

sündigt. Seine parteiischsten Anhänger werden zugestehen müssen, daß ein Ab¬
grund war zwischen der Art, wie er sich an der Ausführung des Messias und an
der der schubertschen Symphonie, der Cantate von Bach und des Werkes von
Berlioz, der Ouvertüre von Mendelssohn und der von Wagner betheiligte.
Den Messias kannte er offenbar nicht einmal genau, was sich, abgesehen von
seiner Unsicherheit in der Angabe der Tempi, in einer großen Anzahl musikali¬
scher Verstöße und Unsicherheiten zeigte, für deren Aufzählung hier nicht der
Platz ist. Von einem Durchdrungensein der hohen Aufgabe, in die Aufführung
eines solchen Werkes Schwung und Begeisterung zu bringen, war gar nicht
die Rede, es war eine Concession an ein unvermeidliches, noch nicht todt zu
machendes Vorurtheil, die ihm auferlegt war und deren er sich entledigte. Für
die feinere Ausführung der handhaben Cantate that er auch nichts, als daß er
einige falsche Noten corrigiren ließ, wobei seine anfänglichen Zweifel wiederum
Zeigten, wie wenig er sich damit vertraut gemacht hatte. Wir dürfen ihm dies
indeß so hoch nicht anrechnen; denn leider blieb er auch bei denjenigen Werken,
denen er sich mit offenbarer Wärme zuwandte, wenn wir höchstens die Tann-
häuserouverture ausnehmen, weit hinter seiner Aufgabe zurück. Zu einem ver¬
hältnißmäßig günstigen Resultate gelangte er eigentlich nur, wenn er zu „der
Stelle eines Taktprofoßes herabsank" und in einem seinem feurigen Tempera¬
mente angemessenen Tempo ein Stück ohne viel Federnlesens abspielen ließ, wie
Z. B. das Finale der Symphonie von Schubert. Wo es irgend darauf ankam,
>n die Einzelnheiten zu gehen, z. B. in dem Andante desselben Werkes, leistete
er verwunderungswürdig wenig. So z. B. hörte man beim Auftreten des
zweiten Hauptsatzes (in ? vur) nichts von der Melodie, weil die Violoncelle
alles todt machten, und ebensowenig kam diese bei ihrer Wiederkehr in ^ vur
zum Vorschein weil die Streicher die Bläser nicht zu Wort kommen ließen.
Dergleichen Beispiele könnten wir noch viele anführen, müßten wir nicht fürch¬
ten, die Geduld der Leser zu ermüden. Man kann nicht weniger mittheilsam
sein, als Liszt es seinem Orchester gegenüber war; einige wenige NitartandoS und
tgi- ausgenommen unterbrach er die Probe fast immer nur, wenn man aus¬
einander war oder wenn falsch gespielt wurde; während man spielte oder sang,
machte er nie eine Bemerkung, und wenn eS irgend vorwärts ging, so blieb
^ dabei. Für diejenigen, welche im vorigen Jahre den Proben unter Rietz
Düsseldorf beigewohnt hatten, war die eilfertige Manier, in welcher dies Mal
das Meiste abgefertigt wurde, ganz und gar unbegreiflich.

Von dem „Fortschritt im Stil der Ausführung", den Liszt sich fast als eine
persönliche Angelegenheit im eben angeführten Briefe zueignet, ließ sich bei
seiner Direction des aachener Musikfestes nichts merken, und Mendelssohn,
Habeneck, Nicolai und gar manche andere haben längst hierin unvergleichlich
Bedeutenderes geleistet. Was Liszt damit sagen will, daß sich der Kapell-


Grenzboten. III. 8
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[0065] sündigt. Seine parteiischsten Anhänger werden zugestehen müssen, daß ein Ab¬ grund war zwischen der Art, wie er sich an der Ausführung des Messias und an der der schubertschen Symphonie, der Cantate von Bach und des Werkes von Berlioz, der Ouvertüre von Mendelssohn und der von Wagner betheiligte. Den Messias kannte er offenbar nicht einmal genau, was sich, abgesehen von seiner Unsicherheit in der Angabe der Tempi, in einer großen Anzahl musikali¬ scher Verstöße und Unsicherheiten zeigte, für deren Aufzählung hier nicht der Platz ist. Von einem Durchdrungensein der hohen Aufgabe, in die Aufführung eines solchen Werkes Schwung und Begeisterung zu bringen, war gar nicht die Rede, es war eine Concession an ein unvermeidliches, noch nicht todt zu machendes Vorurtheil, die ihm auferlegt war und deren er sich entledigte. Für die feinere Ausführung der handhaben Cantate that er auch nichts, als daß er einige falsche Noten corrigiren ließ, wobei seine anfänglichen Zweifel wiederum Zeigten, wie wenig er sich damit vertraut gemacht hatte. Wir dürfen ihm dies indeß so hoch nicht anrechnen; denn leider blieb er auch bei denjenigen Werken, denen er sich mit offenbarer Wärme zuwandte, wenn wir höchstens die Tann- häuserouverture ausnehmen, weit hinter seiner Aufgabe zurück. Zu einem ver¬ hältnißmäßig günstigen Resultate gelangte er eigentlich nur, wenn er zu „der Stelle eines Taktprofoßes herabsank" und in einem seinem feurigen Tempera¬ mente angemessenen Tempo ein Stück ohne viel Federnlesens abspielen ließ, wie Z. B. das Finale der Symphonie von Schubert. Wo es irgend darauf ankam, >n die Einzelnheiten zu gehen, z. B. in dem Andante desselben Werkes, leistete er verwunderungswürdig wenig. So z. B. hörte man beim Auftreten des zweiten Hauptsatzes (in ? vur) nichts von der Melodie, weil die Violoncelle alles todt machten, und ebensowenig kam diese bei ihrer Wiederkehr in ^ vur zum Vorschein weil die Streicher die Bläser nicht zu Wort kommen ließen. Dergleichen Beispiele könnten wir noch viele anführen, müßten wir nicht fürch¬ ten, die Geduld der Leser zu ermüden. Man kann nicht weniger mittheilsam sein, als Liszt es seinem Orchester gegenüber war; einige wenige NitartandoS und tgi- ausgenommen unterbrach er die Probe fast immer nur, wenn man aus¬ einander war oder wenn falsch gespielt wurde; während man spielte oder sang, machte er nie eine Bemerkung, und wenn eS irgend vorwärts ging, so blieb ^ dabei. Für diejenigen, welche im vorigen Jahre den Proben unter Rietz Düsseldorf beigewohnt hatten, war die eilfertige Manier, in welcher dies Mal das Meiste abgefertigt wurde, ganz und gar unbegreiflich. Von dem „Fortschritt im Stil der Ausführung", den Liszt sich fast als eine persönliche Angelegenheit im eben angeführten Briefe zueignet, ließ sich bei seiner Direction des aachener Musikfestes nichts merken, und Mendelssohn, Habeneck, Nicolai und gar manche andere haben längst hierin unvergleichlich Bedeutenderes geleistet. Was Liszt damit sagen will, daß sich der Kapell- Grenzboten. III. 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/65>, abgerufen am 26.08.2024.