Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lebt. Die Analytiker des 18. Jahrhunderts bis zur Revolution waren geist¬
voll, feurig, eroberungssüchtig, von ihrem guten Recht überzeugt. Ihre Nach¬
folger während der Kaiserzeit wurden ebenso trocken, leer und langweilig, wie
die letzten classischen Dichter. Die geistige Welt war leer geworden, und die
Kritik hatte zum Aufbau keine Kraft. Dazu kam der Eindruck der wirklichen
oder vermeintlichen Folgen. Die Revolution schien mit der Encyklopädie im
engsten Zusammenhang zu stehen. Noch augenscheinlicher war die nachtheilige
Einwirkung auf die Kunst. Wenn man alle Ideen ans mathematische Formeln
zurückführt, kann die Dichtung nichts mehr daraus machen. Akademische
Gruppen und conventionelle Nedeformeln waren der letzte Ausdruck der Kunst,
Im gesammten Volk regte sich der Drang, von den Fesseln der Mathematik
befreit, z" denken, zu empfinde", zu träumen. DaS vorige Geschlecht, im
Glauben erzogen, halte gezweifelt; das neue, im Zweifel aufgewachsen, sehnte
sich zu glauben. Man wirb aber seine Vergangenheit nicht ohne weiteres los
und trotz aller Anerkennung des Gefühls verlangte man es doch in der Form
der Reflexion. Durch die Reflexion regten Chateaubriand und Frau von Stahl
die Menge wieder zur Andacht und zum Enthusiasmus auf. Man schmähte
seine Vorgänger, aber man trat in ihre Fußtapfen. Die neue Philosophie
suchte gleichzeitig dem Gefühl und der Metaphysik gerecht zu weiden; sie ver¬
knüpfte die Abstraktionen des Verstandes mit den Träumen deö Herzens. Die
hockklingenden Formeln der deutschen Philosophie fügten sich bequem diesem
doppelten Bedürfniß. Die Sehnsucht der Seele, der Drang nach einem un¬
nennbaren Glück bestimmte die Aufgabe der Speculation; die synthetischen
Kunstausdrücke, die der Mathematik des Dictionnaire "e l'Academie spotteten,
gaben ihr die angemessene Form. Neue, Adolphe, Joseph Delorme, u. s. w.
blieben im unglücklichen Gefühl des Contrastes stehen, weil sie aus der In¬
dividualität nicht herausgingen. In den Verallgemeinerungen der Philosophie
dagegen glichen sich die Widersprüche des Herzens durch Veredtsamkeit aus,
und während die Dichtung verzagt, skeptisch und blasirr erschien, erhob die
Philosophie hoffnungsreich die Fahne der Idee. Sie verlor sich in die Lyrik.
Sie befragte das Herz und daS Gemüth und bestimmte danach ihr Verhalten
zum Christenthum, zur Sittlichkeit, zur Natur. Mau gab dem Verstand das
Wort, aber er mußte dem Gefühl dienen. Daher der ungeheure Erfolg
dieser Philosophie, die einem tiefen Bedürfniß des Zeitalters diente, die von
Talenten ersten Ranges getragen wurde und auf die gleichzeitigen Dichtungen
wie auf die Evangelien der neuen Religion hinweisen konnte.

Der Sensualismus sowol als die Schule BonaldS waren der Geschichte
feind, da sie von einem fixen Ideal ausgingen; der Eklekticismus dagegen
glaubte an die forrgehenve Vervollkommnung und stellte deshalb die Tradition
und mit ihr die Geschichte wieder her. Während der Restauration trat die


lebt. Die Analytiker des 18. Jahrhunderts bis zur Revolution waren geist¬
voll, feurig, eroberungssüchtig, von ihrem guten Recht überzeugt. Ihre Nach¬
folger während der Kaiserzeit wurden ebenso trocken, leer und langweilig, wie
die letzten classischen Dichter. Die geistige Welt war leer geworden, und die
Kritik hatte zum Aufbau keine Kraft. Dazu kam der Eindruck der wirklichen
oder vermeintlichen Folgen. Die Revolution schien mit der Encyklopädie im
engsten Zusammenhang zu stehen. Noch augenscheinlicher war die nachtheilige
Einwirkung auf die Kunst. Wenn man alle Ideen ans mathematische Formeln
zurückführt, kann die Dichtung nichts mehr daraus machen. Akademische
Gruppen und conventionelle Nedeformeln waren der letzte Ausdruck der Kunst,
Im gesammten Volk regte sich der Drang, von den Fesseln der Mathematik
befreit, z» denken, zu empfinde», zu träumen. DaS vorige Geschlecht, im
Glauben erzogen, halte gezweifelt; das neue, im Zweifel aufgewachsen, sehnte
sich zu glauben. Man wirb aber seine Vergangenheit nicht ohne weiteres los
und trotz aller Anerkennung des Gefühls verlangte man es doch in der Form
der Reflexion. Durch die Reflexion regten Chateaubriand und Frau von Stahl
die Menge wieder zur Andacht und zum Enthusiasmus auf. Man schmähte
seine Vorgänger, aber man trat in ihre Fußtapfen. Die neue Philosophie
suchte gleichzeitig dem Gefühl und der Metaphysik gerecht zu weiden; sie ver¬
knüpfte die Abstraktionen des Verstandes mit den Träumen deö Herzens. Die
hockklingenden Formeln der deutschen Philosophie fügten sich bequem diesem
doppelten Bedürfniß. Die Sehnsucht der Seele, der Drang nach einem un¬
nennbaren Glück bestimmte die Aufgabe der Speculation; die synthetischen
Kunstausdrücke, die der Mathematik des Dictionnaire »e l'Academie spotteten,
gaben ihr die angemessene Form. Neue, Adolphe, Joseph Delorme, u. s. w.
blieben im unglücklichen Gefühl des Contrastes stehen, weil sie aus der In¬
dividualität nicht herausgingen. In den Verallgemeinerungen der Philosophie
dagegen glichen sich die Widersprüche des Herzens durch Veredtsamkeit aus,
und während die Dichtung verzagt, skeptisch und blasirr erschien, erhob die
Philosophie hoffnungsreich die Fahne der Idee. Sie verlor sich in die Lyrik.
Sie befragte das Herz und daS Gemüth und bestimmte danach ihr Verhalten
zum Christenthum, zur Sittlichkeit, zur Natur. Mau gab dem Verstand das
Wort, aber er mußte dem Gefühl dienen. Daher der ungeheure Erfolg
dieser Philosophie, die einem tiefen Bedürfniß des Zeitalters diente, die von
Talenten ersten Ranges getragen wurde und auf die gleichzeitigen Dichtungen
wie auf die Evangelien der neuen Religion hinweisen konnte.

Der Sensualismus sowol als die Schule BonaldS waren der Geschichte
feind, da sie von einem fixen Ideal ausgingen; der Eklekticismus dagegen
glaubte an die forrgehenve Vervollkommnung und stellte deshalb die Tradition
und mit ihr die Geschichte wieder her. Während der Restauration trat die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0446" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104647"/>
              <p xml:id="ID_1167" prev="#ID_1166"> lebt. Die Analytiker des 18. Jahrhunderts bis zur Revolution waren geist¬<lb/>
voll, feurig, eroberungssüchtig, von ihrem guten Recht überzeugt. Ihre Nach¬<lb/>
folger während der Kaiserzeit wurden ebenso trocken, leer und langweilig, wie<lb/>
die letzten classischen Dichter. Die geistige Welt war leer geworden, und die<lb/>
Kritik hatte zum Aufbau keine Kraft. Dazu kam der Eindruck der wirklichen<lb/>
oder vermeintlichen Folgen. Die Revolution schien mit der Encyklopädie im<lb/>
engsten Zusammenhang zu stehen. Noch augenscheinlicher war die nachtheilige<lb/>
Einwirkung auf die Kunst. Wenn man alle Ideen ans mathematische Formeln<lb/>
zurückführt, kann die Dichtung nichts mehr daraus machen. Akademische<lb/>
Gruppen und conventionelle Nedeformeln waren der letzte Ausdruck der Kunst,<lb/>
Im gesammten Volk regte sich der Drang, von den Fesseln der Mathematik<lb/>
befreit, z» denken, zu empfinde», zu träumen. DaS vorige Geschlecht, im<lb/>
Glauben erzogen, halte gezweifelt; das neue, im Zweifel aufgewachsen, sehnte<lb/>
sich zu glauben. Man wirb aber seine Vergangenheit nicht ohne weiteres los<lb/>
und trotz aller Anerkennung des Gefühls verlangte man es doch in der Form<lb/>
der Reflexion. Durch die Reflexion regten Chateaubriand und Frau von Stahl<lb/>
die Menge wieder zur Andacht und zum Enthusiasmus auf. Man schmähte<lb/>
seine Vorgänger, aber man trat in ihre Fußtapfen. Die neue Philosophie<lb/>
suchte gleichzeitig dem Gefühl und der Metaphysik gerecht zu weiden; sie ver¬<lb/>
knüpfte die Abstraktionen des Verstandes mit den Träumen deö Herzens. Die<lb/>
hockklingenden Formeln der deutschen Philosophie fügten sich bequem diesem<lb/>
doppelten Bedürfniß. Die Sehnsucht der Seele, der Drang nach einem un¬<lb/>
nennbaren Glück bestimmte die Aufgabe der Speculation; die synthetischen<lb/>
Kunstausdrücke, die der Mathematik des Dictionnaire »e l'Academie spotteten,<lb/>
gaben ihr die angemessene Form. Neue, Adolphe, Joseph Delorme, u. s. w.<lb/>
blieben im unglücklichen Gefühl des Contrastes stehen, weil sie aus der In¬<lb/>
dividualität nicht herausgingen. In den Verallgemeinerungen der Philosophie<lb/>
dagegen glichen sich die Widersprüche des Herzens durch Veredtsamkeit aus,<lb/>
und während die Dichtung verzagt, skeptisch und blasirr erschien, erhob die<lb/>
Philosophie hoffnungsreich die Fahne der Idee. Sie verlor sich in die Lyrik.<lb/>
Sie befragte das Herz und daS Gemüth und bestimmte danach ihr Verhalten<lb/>
zum Christenthum, zur Sittlichkeit, zur Natur. Mau gab dem Verstand das<lb/>
Wort, aber er mußte dem Gefühl dienen. Daher der ungeheure Erfolg<lb/>
dieser Philosophie, die einem tiefen Bedürfniß des Zeitalters diente, die von<lb/>
Talenten ersten Ranges getragen wurde und auf die gleichzeitigen Dichtungen<lb/>
wie auf die Evangelien der neuen Religion hinweisen konnte.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_1168" next="#ID_1169"> Der Sensualismus sowol als die Schule BonaldS waren der Geschichte<lb/>
feind, da sie von einem fixen Ideal ausgingen; der Eklekticismus dagegen<lb/>
glaubte an die forrgehenve Vervollkommnung und stellte deshalb die Tradition<lb/>
und mit ihr die Geschichte wieder her.  Während der Restauration trat die</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0446] lebt. Die Analytiker des 18. Jahrhunderts bis zur Revolution waren geist¬ voll, feurig, eroberungssüchtig, von ihrem guten Recht überzeugt. Ihre Nach¬ folger während der Kaiserzeit wurden ebenso trocken, leer und langweilig, wie die letzten classischen Dichter. Die geistige Welt war leer geworden, und die Kritik hatte zum Aufbau keine Kraft. Dazu kam der Eindruck der wirklichen oder vermeintlichen Folgen. Die Revolution schien mit der Encyklopädie im engsten Zusammenhang zu stehen. Noch augenscheinlicher war die nachtheilige Einwirkung auf die Kunst. Wenn man alle Ideen ans mathematische Formeln zurückführt, kann die Dichtung nichts mehr daraus machen. Akademische Gruppen und conventionelle Nedeformeln waren der letzte Ausdruck der Kunst, Im gesammten Volk regte sich der Drang, von den Fesseln der Mathematik befreit, z» denken, zu empfinde», zu träumen. DaS vorige Geschlecht, im Glauben erzogen, halte gezweifelt; das neue, im Zweifel aufgewachsen, sehnte sich zu glauben. Man wirb aber seine Vergangenheit nicht ohne weiteres los und trotz aller Anerkennung des Gefühls verlangte man es doch in der Form der Reflexion. Durch die Reflexion regten Chateaubriand und Frau von Stahl die Menge wieder zur Andacht und zum Enthusiasmus auf. Man schmähte seine Vorgänger, aber man trat in ihre Fußtapfen. Die neue Philosophie suchte gleichzeitig dem Gefühl und der Metaphysik gerecht zu weiden; sie ver¬ knüpfte die Abstraktionen des Verstandes mit den Träumen deö Herzens. Die hockklingenden Formeln der deutschen Philosophie fügten sich bequem diesem doppelten Bedürfniß. Die Sehnsucht der Seele, der Drang nach einem un¬ nennbaren Glück bestimmte die Aufgabe der Speculation; die synthetischen Kunstausdrücke, die der Mathematik des Dictionnaire »e l'Academie spotteten, gaben ihr die angemessene Form. Neue, Adolphe, Joseph Delorme, u. s. w. blieben im unglücklichen Gefühl des Contrastes stehen, weil sie aus der In¬ dividualität nicht herausgingen. In den Verallgemeinerungen der Philosophie dagegen glichen sich die Widersprüche des Herzens durch Veredtsamkeit aus, und während die Dichtung verzagt, skeptisch und blasirr erschien, erhob die Philosophie hoffnungsreich die Fahne der Idee. Sie verlor sich in die Lyrik. Sie befragte das Herz und daS Gemüth und bestimmte danach ihr Verhalten zum Christenthum, zur Sittlichkeit, zur Natur. Mau gab dem Verstand das Wort, aber er mußte dem Gefühl dienen. Daher der ungeheure Erfolg dieser Philosophie, die einem tiefen Bedürfniß des Zeitalters diente, die von Talenten ersten Ranges getragen wurde und auf die gleichzeitigen Dichtungen wie auf die Evangelien der neuen Religion hinweisen konnte. Der Sensualismus sowol als die Schule BonaldS waren der Geschichte feind, da sie von einem fixen Ideal ausgingen; der Eklekticismus dagegen glaubte an die forrgehenve Vervollkommnung und stellte deshalb die Tradition und mit ihr die Geschichte wieder her. Während der Restauration trat die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/446
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/446>, abgerufen am 01.10.2024.