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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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glaubte. Er ging von Zeit zu Zeit in Cousins Vorlesungen, um sich über den
neuesten Stand der Schule zu unterrichten, aber er erwartete von ihnen keine
Lösung seiner Fragen. "Ich überzeugte mich zuletzt, daß ich nur das wahr¬
haft begriff, was ich selbst gefunden; ich verlor allen Glauben an den über¬
lieferten Unterricht, und habe diese Meinung noch heute nicht geändert."
Diese beständige Jsolirung gab seinem Geist jene melancholische Färbung, die
weit entfernt, den Ernst seiner Untersuchungen zu beeinträchtigen, das Interesse
seiner Schriften erhöht. Er glaubte alles Unglück der gegenwärtigen Zeit aus
dem Fall der alten Religion und der unbestimmten Erwartung einer neuen
herzuleiten. Aber er blieb bei dem Bedauern nicht stehen, er beschloß, sich
durchzuarbeiten und Gewißheit zu suchen. Die Wahrheit der Dinge hängt
von der Beschaffenheit unsers Bewußtseins ab. Diese muß zunächst gründlich
geprüft werden, wenn man sich die Welt klar machen will. Die Thatsachen
des Bewußtseins, aufmerksam studirt, geben nie etwas absolut Falsches; der
Irrthum liegt nur darin, sie zu vereinzeln und zu verallgemeinern. So ist eS
auch mit den Systemen der Philosophie. Sie enthalten durchweg ein Frag¬
ment der Wahrheit und können nur ruhig gewürdigt werden, wenn man sie
durch die Beobachtung der eigenen Seele controlirt. In diesen psychologischen
Boruntersuchungen ging Jouffroy so weit, daß, wenn es zum Endresultate
kommen sollte, er scheu zurückwich. Die Rechtschaffenheit seiner Natur bestimmte
ihn stets, was er nicht wußte, offen einzugestehen, und so wich er in seinen
Schlüssen sehr weit von der freudigen Zuversicht der' übrigen Schulen ab. "Ich
begreife nicht, wie man beweisen will, daß der Geist die Dinge so sieht, wie
sie wirklich sind. Die Wahrheit des menschlichen Bewußtseins durch dieses
Bewußtsein selbst zu erörtern, ist zu allen Zeilen unmöglich gewesen und wird
es ewig bleiben. Der Socialismus ist unwiderleglich, weil er das letzte Wort
der Vernunft über sich selbst ist." -- Eousin verstand unter Philosophie nach
Art der Deutschen den Inbegriff aller Wissenschaften, für Jouffroy war sie
eine besondere Wissenschaft in der Reihe der übrigen. Weil man versäumt, die
psychologische Grundlage der Logik festzustellen, sei die Philosophie aus einem
Irrthum in den andern versallen. Die Vorwürfe, daß er sich mit den Vor¬
untersuchungen zu lange aufhalte, irrten ihn wenig: auch wenn darauf mehr
als ein Lebensalter verwundr wäre, wäre daS Opfer nicht zu groß. In der
That hat diese langsame Arbeit ihre Früchte getragen. Seine Einleitung in
die Psychologie (Vorrede zu den Werken Dugalo Stewart's, -I82K) ist ein blei¬
bender Gewinn für die Wissenschaft, wenn auch die schwerfällige Form sie
auf einen kleinen Kreis von Lesern beschränkt, und wenn in der Beschreibung
der psychologischen Thatsachen durch die Unbestimmtheit der Ausdrücke manche
Schattenbilder geblieben sind, z. B. das in der Geschichte der Philosophie längst
überwundene Di"g-an-sich (pas Subject als unabhängig von seinen Präbi-


glaubte. Er ging von Zeit zu Zeit in Cousins Vorlesungen, um sich über den
neuesten Stand der Schule zu unterrichten, aber er erwartete von ihnen keine
Lösung seiner Fragen. „Ich überzeugte mich zuletzt, daß ich nur das wahr¬
haft begriff, was ich selbst gefunden; ich verlor allen Glauben an den über¬
lieferten Unterricht, und habe diese Meinung noch heute nicht geändert."
Diese beständige Jsolirung gab seinem Geist jene melancholische Färbung, die
weit entfernt, den Ernst seiner Untersuchungen zu beeinträchtigen, das Interesse
seiner Schriften erhöht. Er glaubte alles Unglück der gegenwärtigen Zeit aus
dem Fall der alten Religion und der unbestimmten Erwartung einer neuen
herzuleiten. Aber er blieb bei dem Bedauern nicht stehen, er beschloß, sich
durchzuarbeiten und Gewißheit zu suchen. Die Wahrheit der Dinge hängt
von der Beschaffenheit unsers Bewußtseins ab. Diese muß zunächst gründlich
geprüft werden, wenn man sich die Welt klar machen will. Die Thatsachen
des Bewußtseins, aufmerksam studirt, geben nie etwas absolut Falsches; der
Irrthum liegt nur darin, sie zu vereinzeln und zu verallgemeinern. So ist eS
auch mit den Systemen der Philosophie. Sie enthalten durchweg ein Frag¬
ment der Wahrheit und können nur ruhig gewürdigt werden, wenn man sie
durch die Beobachtung der eigenen Seele controlirt. In diesen psychologischen
Boruntersuchungen ging Jouffroy so weit, daß, wenn es zum Endresultate
kommen sollte, er scheu zurückwich. Die Rechtschaffenheit seiner Natur bestimmte
ihn stets, was er nicht wußte, offen einzugestehen, und so wich er in seinen
Schlüssen sehr weit von der freudigen Zuversicht der' übrigen Schulen ab. „Ich
begreife nicht, wie man beweisen will, daß der Geist die Dinge so sieht, wie
sie wirklich sind. Die Wahrheit des menschlichen Bewußtseins durch dieses
Bewußtsein selbst zu erörtern, ist zu allen Zeilen unmöglich gewesen und wird
es ewig bleiben. Der Socialismus ist unwiderleglich, weil er das letzte Wort
der Vernunft über sich selbst ist." — Eousin verstand unter Philosophie nach
Art der Deutschen den Inbegriff aller Wissenschaften, für Jouffroy war sie
eine besondere Wissenschaft in der Reihe der übrigen. Weil man versäumt, die
psychologische Grundlage der Logik festzustellen, sei die Philosophie aus einem
Irrthum in den andern versallen. Die Vorwürfe, daß er sich mit den Vor¬
untersuchungen zu lange aufhalte, irrten ihn wenig: auch wenn darauf mehr
als ein Lebensalter verwundr wäre, wäre daS Opfer nicht zu groß. In der
That hat diese langsame Arbeit ihre Früchte getragen. Seine Einleitung in
die Psychologie (Vorrede zu den Werken Dugalo Stewart's, -I82K) ist ein blei¬
bender Gewinn für die Wissenschaft, wenn auch die schwerfällige Form sie
auf einen kleinen Kreis von Lesern beschränkt, und wenn in der Beschreibung
der psychologischen Thatsachen durch die Unbestimmtheit der Ausdrücke manche
Schattenbilder geblieben sind, z. B. das in der Geschichte der Philosophie längst
überwundene Di»g-an-sich (pas Subject als unabhängig von seinen Präbi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/442>, abgerufen am 24.08.2024.