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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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das allerdringendste Bedürfniß, zureichen. Bei den vorhandenen genauen
statistischen Nachweisen hierüber, welche namentlich die Kammerdebatte über
das neue Wohlthätigkeitsgesctz jüngst zur öffentlichen Kenntniß brachte, laßt
sich daS Verhältniß aus das schlagendste nachweisen. Die Einwohnerzahl
Belgiens betrug nach der Zählung von 1853 3,830,000 Köpfe, welche sich
auf 908,530 Familien vertheilen. Von diesen letzteren lebten:

89,630 in guten oder behäbigen,

373,000 in mehr oder weniger gedrückten Umständen, und

446,000, also etwa die Hälfte, im Elend. Von den letzter" empfingen
226,000 (nahezu ein Viertheil der ganzen Bevölkerung) Unterstützung aus
öffentlichen Mitteln. Also auf 100 Menschen: 9' reiche oder wohlhabende,
42 unbemittelte, zum Theil dürftige, 49 im Elend, unter denen, abgesehen von
der sicher stark in Anspruch genommenen Privatmildthätigkeit, 23 aus öffent¬
lichen Mitteln Unterstützung erhalten. Die zu letzterem Zwecke verwendete
Summe, zum großen Theil aus geistlichen Corporatione" und milden Stif¬
tungen, beträgt nicht weniger als 14 Millionen Franken alljährlich! Wenn man
bedenkt, welcher ungeheure Capitalstock erforderlich ist, um eine solche Rente zu
gewähren, und daß das productive Capital des Landes, der Fond, aus welchem
die arbeitenden Classen ihre Löhne zu ziehen haben, um so viel geschmälert
wird; ferner daß das Wachsen dieses todten Capitals mit dem steigenden De¬
ficit des Lohnfonds Hand in Hand geht; so eröffnet sich eine Perspektive,
welche die socialen Zustände, die nächste Zukunft des gepriesenen Landes wahr¬
lich nicht beneidenswerih erscheinen läßt. Und daß daS Bewußtsein der von
dieser Seile drohenden Gefahren unter dem intelligenten Theile der Bevölkerung
sich mehr und mehr verbreitet, dahin dürften doch wol die jüngsten Volksbe¬
wegungen gedeutet werden gegen das von den Kammern votirte erwähnte
Wohllhäligkeusgesetz, nach welchem die Stiftungen zu solchen Zwecken künftig
von der Controle des Staates ganz befreit, das Anwachsen der todten Fonds
(morluk manu") befördert, und insbesondere der Einfluß der Kirche auf dieses
ganze Gehler verstärkt worden wäre. Besonders hat sich die entschiedenste
Reaction gegen die unheimliche Vormundschaft der Hierarchie bei jenen Bewe¬
gungen kund gegeben, welche die belgische Negierung zwar durch energisches
Einschreiten in die Schranken der Ordnung zurückweise" mußte, in denen sie
jedoch die Manifestation der öffentlichen Meinung zu erkennen und ihr durch
Zurückziehen der gehässigen Gesetzvorlage gerecht zu werden, weise genug war.

Drängen wir nach alledem das Resultat unserer Erörterungen kurz zusam¬
men, so ergibt sich für uns ungefähr Folgendes.

Zunächst ist die Nothwendigkeit und das Verdienstliche von Anstalten
öffentlicher Wohlthätigkeit zur Linderung deS Elends im Einzelnen, als Mittel
gegen die sporadische und periodische Verarmung unbedingt anzuerkennen. Noch


das allerdringendste Bedürfniß, zureichen. Bei den vorhandenen genauen
statistischen Nachweisen hierüber, welche namentlich die Kammerdebatte über
das neue Wohlthätigkeitsgesctz jüngst zur öffentlichen Kenntniß brachte, laßt
sich daS Verhältniß aus das schlagendste nachweisen. Die Einwohnerzahl
Belgiens betrug nach der Zählung von 1853 3,830,000 Köpfe, welche sich
auf 908,530 Familien vertheilen. Von diesen letzteren lebten:

89,630 in guten oder behäbigen,

373,000 in mehr oder weniger gedrückten Umständen, und

446,000, also etwa die Hälfte, im Elend. Von den letzter» empfingen
226,000 (nahezu ein Viertheil der ganzen Bevölkerung) Unterstützung aus
öffentlichen Mitteln. Also auf 100 Menschen: 9' reiche oder wohlhabende,
42 unbemittelte, zum Theil dürftige, 49 im Elend, unter denen, abgesehen von
der sicher stark in Anspruch genommenen Privatmildthätigkeit, 23 aus öffent¬
lichen Mitteln Unterstützung erhalten. Die zu letzterem Zwecke verwendete
Summe, zum großen Theil aus geistlichen Corporatione» und milden Stif¬
tungen, beträgt nicht weniger als 14 Millionen Franken alljährlich! Wenn man
bedenkt, welcher ungeheure Capitalstock erforderlich ist, um eine solche Rente zu
gewähren, und daß das productive Capital des Landes, der Fond, aus welchem
die arbeitenden Classen ihre Löhne zu ziehen haben, um so viel geschmälert
wird; ferner daß das Wachsen dieses todten Capitals mit dem steigenden De¬
ficit des Lohnfonds Hand in Hand geht; so eröffnet sich eine Perspektive,
welche die socialen Zustände, die nächste Zukunft des gepriesenen Landes wahr¬
lich nicht beneidenswerih erscheinen läßt. Und daß daS Bewußtsein der von
dieser Seile drohenden Gefahren unter dem intelligenten Theile der Bevölkerung
sich mehr und mehr verbreitet, dahin dürften doch wol die jüngsten Volksbe¬
wegungen gedeutet werden gegen das von den Kammern votirte erwähnte
Wohllhäligkeusgesetz, nach welchem die Stiftungen zu solchen Zwecken künftig
von der Controle des Staates ganz befreit, das Anwachsen der todten Fonds
(morluk manu«) befördert, und insbesondere der Einfluß der Kirche auf dieses
ganze Gehler verstärkt worden wäre. Besonders hat sich die entschiedenste
Reaction gegen die unheimliche Vormundschaft der Hierarchie bei jenen Bewe¬
gungen kund gegeben, welche die belgische Negierung zwar durch energisches
Einschreiten in die Schranken der Ordnung zurückweise» mußte, in denen sie
jedoch die Manifestation der öffentlichen Meinung zu erkennen und ihr durch
Zurückziehen der gehässigen Gesetzvorlage gerecht zu werden, weise genug war.

Drängen wir nach alledem das Resultat unserer Erörterungen kurz zusam¬
men, so ergibt sich für uns ungefähr Folgendes.

Zunächst ist die Nothwendigkeit und das Verdienstliche von Anstalten
öffentlicher Wohlthätigkeit zur Linderung deS Elends im Einzelnen, als Mittel
gegen die sporadische und periodische Verarmung unbedingt anzuerkennen. Noch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/420>, abgerufen am 01.10.2024.