Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Anderes, als die Rechtfertigung der Jnstincte der Revolution durch daS Nach¬
denken. -- Seit Descartes weiß man, daß nur das Studium deS Menschen
zu Gott führt. Seitdem gibt es keine Autorität ohne diese Stütze; auch in
der Politik gibt eS keine andere Amorität. Die menschliche Gesellschaft ist
ihr eigenes Werk, sie hängt von keiner fremden geheimnißvollen Macht ab
und der einzige Grund der Autorität ist der Instinct und die Uebereinstimmung
der Völker. Das Princip der nationalen Souveränetät, durch die Revolution
festgestellt, entspricht dem Princip des freien Denkens, welches Cartesius ge¬
funden. Wohl weiß ich, daß die Söhne nicht den Glauben ihrer Väter geerbt
haben. Unser Geschlecht hat so viel Wandlungen erlitten, daß eS müde ist
und sich nach Ruhe sehnt. Es verlangt nach der Autorität, wie die Jugend
von 1789 nach der Freiheit, und Lästerungen gegen die Philosophie und ge¬
gen die Revolution sind an der Tagesordnung; aber es gibt keinen Glauben
gegen die Vernunft. Selbst wenn die Vernunft, von Zweifeln gequält, ihr
Recht in die Hände einer fremden Autorität niederlegt, so ist daS eine Selbst¬
täuschung; denn sie bleibt immer die souveräne Richterin. Die Philosophie
ist ein unvermeidliches Uebel. -- Wol hat die Revolution viel Blut gekostet;
aber kein großer Fortschritt ist ohne Opfer denkbar und die drei großen Grund¬
sätze der Revolution, die nationale Souveränetät, die rechtliche Freiheit deS
Einzelnen und die Verminderung der Unwissenheit, deS Elends und deS Lasters
durch die Brüderlichkeit wiegen alle früheren Leiden auf." Er setzt dann die
Nothwendigkeit der constitutionellen, auf den Nationalwillen gestützten Mo¬
narchie auseinander. "Man sagt, der Erfolg habe gegen sie entschieden; im
Gegentheil; weder die Republik noch der Absolutismus haben sich halten kön¬
nen und der Jnstinct des Volkes ist stets zur gemäßigten Monarchie zurück¬
gekehrt; die Juliregierung ist nicht durch ihr Princip, sondern durch ihre Fehler
gefallen. Sie setzte die persönliche Regierung an Stelle der parlamentarischen,
sie beschränkte die Theilnahme am Staat auf eine verhältnißmäßig geringe
Zahl; sie sorgte zu wenig für daS Wohlergehen der leidenden Classen ; dadurch
verlor sie ihren natürlichen Halt und stürzte in sich selbst zusammen, aber ohne
ihr Princip mit in ihren Sturz zu ziehen. Die Gesellschaft wirb sich durch
ihre eigene Schwere erhalten; sie bedarf der äußeren Stütze nicht, und wenn
sie der Religion ihre Hand bietet, so ist daS ein freier, ein unabhängiger Ent¬
schluß. Die jetzige religiöse Stimmung entspringt nur aus der Furcht; sie
kann den ruhigen Denker nicht täuschen. Alle großen Erwerbe der Cultur
sind der natürlichen Vernunft zu danken, das römische Recht, sämmtliche Wis¬
senschaften u. s. w., auch die Theologie kann nur auf diesem Wege gedeihen.
Man mißtraut der Vernunft, weil sie im vorigen Jahrhundert vom Gefühl
sich trennte; aber daS von der Vernunft getrennte Gefühl ist eine noch schlech¬
tere Stütze. Wol leidet die Gegenwart an jener Zerfahrenheit des Willens,


Anderes, als die Rechtfertigung der Jnstincte der Revolution durch daS Nach¬
denken. — Seit Descartes weiß man, daß nur das Studium deS Menschen
zu Gott führt. Seitdem gibt es keine Autorität ohne diese Stütze; auch in
der Politik gibt eS keine andere Amorität. Die menschliche Gesellschaft ist
ihr eigenes Werk, sie hängt von keiner fremden geheimnißvollen Macht ab
und der einzige Grund der Autorität ist der Instinct und die Uebereinstimmung
der Völker. Das Princip der nationalen Souveränetät, durch die Revolution
festgestellt, entspricht dem Princip des freien Denkens, welches Cartesius ge¬
funden. Wohl weiß ich, daß die Söhne nicht den Glauben ihrer Väter geerbt
haben. Unser Geschlecht hat so viel Wandlungen erlitten, daß eS müde ist
und sich nach Ruhe sehnt. Es verlangt nach der Autorität, wie die Jugend
von 1789 nach der Freiheit, und Lästerungen gegen die Philosophie und ge¬
gen die Revolution sind an der Tagesordnung; aber es gibt keinen Glauben
gegen die Vernunft. Selbst wenn die Vernunft, von Zweifeln gequält, ihr
Recht in die Hände einer fremden Autorität niederlegt, so ist daS eine Selbst¬
täuschung; denn sie bleibt immer die souveräne Richterin. Die Philosophie
ist ein unvermeidliches Uebel. — Wol hat die Revolution viel Blut gekostet;
aber kein großer Fortschritt ist ohne Opfer denkbar und die drei großen Grund¬
sätze der Revolution, die nationale Souveränetät, die rechtliche Freiheit deS
Einzelnen und die Verminderung der Unwissenheit, deS Elends und deS Lasters
durch die Brüderlichkeit wiegen alle früheren Leiden auf." Er setzt dann die
Nothwendigkeit der constitutionellen, auf den Nationalwillen gestützten Mo¬
narchie auseinander. „Man sagt, der Erfolg habe gegen sie entschieden; im
Gegentheil; weder die Republik noch der Absolutismus haben sich halten kön¬
nen und der Jnstinct des Volkes ist stets zur gemäßigten Monarchie zurück¬
gekehrt; die Juliregierung ist nicht durch ihr Princip, sondern durch ihre Fehler
gefallen. Sie setzte die persönliche Regierung an Stelle der parlamentarischen,
sie beschränkte die Theilnahme am Staat auf eine verhältnißmäßig geringe
Zahl; sie sorgte zu wenig für daS Wohlergehen der leidenden Classen ; dadurch
verlor sie ihren natürlichen Halt und stürzte in sich selbst zusammen, aber ohne
ihr Princip mit in ihren Sturz zu ziehen. Die Gesellschaft wirb sich durch
ihre eigene Schwere erhalten; sie bedarf der äußeren Stütze nicht, und wenn
sie der Religion ihre Hand bietet, so ist daS ein freier, ein unabhängiger Ent¬
schluß. Die jetzige religiöse Stimmung entspringt nur aus der Furcht; sie
kann den ruhigen Denker nicht täuschen. Alle großen Erwerbe der Cultur
sind der natürlichen Vernunft zu danken, das römische Recht, sämmtliche Wis¬
senschaften u. s. w., auch die Theologie kann nur auf diesem Wege gedeihen.
Man mißtraut der Vernunft, weil sie im vorigen Jahrhundert vom Gefühl
sich trennte; aber daS von der Vernunft getrennte Gefühl ist eine noch schlech¬
tere Stütze. Wol leidet die Gegenwart an jener Zerfahrenheit des Willens,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0359" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104560"/>
              <p xml:id="ID_921" prev="#ID_920" next="#ID_922"> Anderes, als die Rechtfertigung der Jnstincte der Revolution durch daS Nach¬<lb/>
denken. &#x2014; Seit Descartes weiß man, daß nur das Studium deS Menschen<lb/>
zu Gott führt. Seitdem gibt es keine Autorität ohne diese Stütze; auch in<lb/>
der Politik gibt eS keine andere Amorität. Die menschliche Gesellschaft ist<lb/>
ihr eigenes Werk, sie hängt von keiner fremden geheimnißvollen Macht ab<lb/>
und der einzige Grund der Autorität ist der Instinct und die Uebereinstimmung<lb/>
der Völker. Das Princip der nationalen Souveränetät, durch die Revolution<lb/>
festgestellt, entspricht dem Princip des freien Denkens, welches Cartesius ge¬<lb/>
funden. Wohl weiß ich, daß die Söhne nicht den Glauben ihrer Väter geerbt<lb/>
haben. Unser Geschlecht hat so viel Wandlungen erlitten, daß eS müde ist<lb/>
und sich nach Ruhe sehnt. Es verlangt nach der Autorität, wie die Jugend<lb/>
von 1789 nach der Freiheit, und Lästerungen gegen die Philosophie und ge¬<lb/>
gen die Revolution sind an der Tagesordnung; aber es gibt keinen Glauben<lb/>
gegen die Vernunft. Selbst wenn die Vernunft, von Zweifeln gequält, ihr<lb/>
Recht in die Hände einer fremden Autorität niederlegt, so ist daS eine Selbst¬<lb/>
täuschung; denn sie bleibt immer die souveräne Richterin. Die Philosophie<lb/>
ist ein unvermeidliches Uebel. &#x2014; Wol hat die Revolution viel Blut gekostet;<lb/>
aber kein großer Fortschritt ist ohne Opfer denkbar und die drei großen Grund¬<lb/>
sätze der Revolution, die nationale Souveränetät, die rechtliche Freiheit deS<lb/>
Einzelnen und die Verminderung der Unwissenheit, deS Elends und deS Lasters<lb/>
durch die Brüderlichkeit wiegen alle früheren Leiden auf." Er setzt dann die<lb/>
Nothwendigkeit der constitutionellen, auf den Nationalwillen gestützten Mo¬<lb/>
narchie auseinander. &#x201E;Man sagt, der Erfolg habe gegen sie entschieden; im<lb/>
Gegentheil; weder die Republik noch der Absolutismus haben sich halten kön¬<lb/>
nen und der Jnstinct des Volkes ist stets zur gemäßigten Monarchie zurück¬<lb/>
gekehrt; die Juliregierung ist nicht durch ihr Princip, sondern durch ihre Fehler<lb/>
gefallen. Sie setzte die persönliche Regierung an Stelle der parlamentarischen,<lb/>
sie beschränkte die Theilnahme am Staat auf eine verhältnißmäßig geringe<lb/>
Zahl; sie sorgte zu wenig für daS Wohlergehen der leidenden Classen ; dadurch<lb/>
verlor sie ihren natürlichen Halt und stürzte in sich selbst zusammen, aber ohne<lb/>
ihr Princip mit in ihren Sturz zu ziehen. Die Gesellschaft wirb sich durch<lb/>
ihre eigene Schwere erhalten; sie bedarf der äußeren Stütze nicht, und wenn<lb/>
sie der Religion ihre Hand bietet, so ist daS ein freier, ein unabhängiger Ent¬<lb/>
schluß. Die jetzige religiöse Stimmung entspringt nur aus der Furcht; sie<lb/>
kann den ruhigen Denker nicht täuschen. Alle großen Erwerbe der Cultur<lb/>
sind der natürlichen Vernunft zu danken, das römische Recht, sämmtliche Wis¬<lb/>
senschaften u. s. w., auch die Theologie kann nur auf diesem Wege gedeihen.<lb/>
Man mißtraut der Vernunft, weil sie im vorigen Jahrhundert vom Gefühl<lb/>
sich trennte; aber daS von der Vernunft getrennte Gefühl ist eine noch schlech¬<lb/>
tere Stütze.  Wol leidet die Gegenwart an jener Zerfahrenheit des Willens,</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0359] Anderes, als die Rechtfertigung der Jnstincte der Revolution durch daS Nach¬ denken. — Seit Descartes weiß man, daß nur das Studium deS Menschen zu Gott führt. Seitdem gibt es keine Autorität ohne diese Stütze; auch in der Politik gibt eS keine andere Amorität. Die menschliche Gesellschaft ist ihr eigenes Werk, sie hängt von keiner fremden geheimnißvollen Macht ab und der einzige Grund der Autorität ist der Instinct und die Uebereinstimmung der Völker. Das Princip der nationalen Souveränetät, durch die Revolution festgestellt, entspricht dem Princip des freien Denkens, welches Cartesius ge¬ funden. Wohl weiß ich, daß die Söhne nicht den Glauben ihrer Väter geerbt haben. Unser Geschlecht hat so viel Wandlungen erlitten, daß eS müde ist und sich nach Ruhe sehnt. Es verlangt nach der Autorität, wie die Jugend von 1789 nach der Freiheit, und Lästerungen gegen die Philosophie und ge¬ gen die Revolution sind an der Tagesordnung; aber es gibt keinen Glauben gegen die Vernunft. Selbst wenn die Vernunft, von Zweifeln gequält, ihr Recht in die Hände einer fremden Autorität niederlegt, so ist daS eine Selbst¬ täuschung; denn sie bleibt immer die souveräne Richterin. Die Philosophie ist ein unvermeidliches Uebel. — Wol hat die Revolution viel Blut gekostet; aber kein großer Fortschritt ist ohne Opfer denkbar und die drei großen Grund¬ sätze der Revolution, die nationale Souveränetät, die rechtliche Freiheit deS Einzelnen und die Verminderung der Unwissenheit, deS Elends und deS Lasters durch die Brüderlichkeit wiegen alle früheren Leiden auf." Er setzt dann die Nothwendigkeit der constitutionellen, auf den Nationalwillen gestützten Mo¬ narchie auseinander. „Man sagt, der Erfolg habe gegen sie entschieden; im Gegentheil; weder die Republik noch der Absolutismus haben sich halten kön¬ nen und der Jnstinct des Volkes ist stets zur gemäßigten Monarchie zurück¬ gekehrt; die Juliregierung ist nicht durch ihr Princip, sondern durch ihre Fehler gefallen. Sie setzte die persönliche Regierung an Stelle der parlamentarischen, sie beschränkte die Theilnahme am Staat auf eine verhältnißmäßig geringe Zahl; sie sorgte zu wenig für daS Wohlergehen der leidenden Classen ; dadurch verlor sie ihren natürlichen Halt und stürzte in sich selbst zusammen, aber ohne ihr Princip mit in ihren Sturz zu ziehen. Die Gesellschaft wirb sich durch ihre eigene Schwere erhalten; sie bedarf der äußeren Stütze nicht, und wenn sie der Religion ihre Hand bietet, so ist daS ein freier, ein unabhängiger Ent¬ schluß. Die jetzige religiöse Stimmung entspringt nur aus der Furcht; sie kann den ruhigen Denker nicht täuschen. Alle großen Erwerbe der Cultur sind der natürlichen Vernunft zu danken, das römische Recht, sämmtliche Wis¬ senschaften u. s. w., auch die Theologie kann nur auf diesem Wege gedeihen. Man mißtraut der Vernunft, weil sie im vorigen Jahrhundert vom Gefühl sich trennte; aber daS von der Vernunft getrennte Gefühl ist eine noch schlech¬ tere Stütze. Wol leidet die Gegenwart an jener Zerfahrenheit des Willens,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/359
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/359>, abgerufen am 05.12.2024.