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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Vorlesungen Du vrsi, clri dssu, ein Kien in der Sorbonne 1818 wurden zuerst
1838 von einem Schüler, dann durch Cousin selbst mit nicht unwesentlichen
Zusätzen 18es herausgegeben.*)

Er sucht zuerst den Begriff des Schönen im menschlichen Geist nachzu¬
weisen, dann die Darstellung desselben in der Natur, endlich den vollendeten
Ausdruck desselben in der Kunst. Man erkennt in dieser Dialektik den Einfluß
Hegels und findet in den Begriffsbestimmungen wenig, was nicht in der deut¬
schen Philosophie vollständiger und besser ausgedrückt wäre. Das Interesse
deS Buchs liegt in der Anwendung der von den Deutschen entnommenen Ge¬
danken auf die französische Cultur. Cousin zeigt, daß die Vernachlässigung
der Aesthetik bei der Philosophie deS vorigen Jahrhunderts aus dem Wesen der
Sache hervorging. Eine Philosophie, die alle Ideen aus sinnlicher Empfindung
herleitete, konnte sich zu der Je>ce einer interesselosen Bewunderung nicht auf¬
schwingen. DaS Erhabene macht sich nur geltend, wenn Furcht und Begierde
schweigt. Wer nur die letztere gelten läßt,, verleugnet die Grundlage der Aesthe¬
tik. Nur der Verfasser des Phädon konnte den Phädrus und das Symposion
schreiben; nur der Spiritualismus kann eine Philosophie der Kunst geben. So
lange die Kräfte der Seele, Vernunft, Gefühl, Einbildungskraft sich sondern,
ist künstlerisches Schaffen unmöglich; nur die gleichmäßige Ausbildung und
Vermählung dieser verschiedenen Kräfte bringt den Geschmack und jene Reife
der Seele hervor, die daS erste Erfordernis; der Kunst ist. -- Die Gedanken sind
uns bekannt; aber, für Frankreich war es von der größten Wichtigkeit, in dieser
lebendigen, schönen und ergreifenden Sprache, welche die gesammte Jugend
entzündete, daS Vorgefühl einer neuen Kunstentwicklung zu empfangen.--^^n
folgerichtiger Durchführung seines Princips verwirft Cousin die gemeine Nach¬
ahmung der Natur und predigt den Idealismus. Die Poesie stellt er als die
erste Kunst dar, als diejenige, die jeder Kunst zu Grunde liegen müsse. Die
Kunst hat die Aufgabe, Ideen auszudrücken, das Sinnliche hat in ihr nur so
weit Bürgerrecht, als es den Geist durchscheinen läßt. Auf dem Antlitz der
Natur wie aus dem Antlitz des Menschen müssen wir die Spuren Gottes er¬
kennen, um sie poetisch darzustellen. Die Sinnlichkeit ist das nothwendige Me¬
dium der Kunst; aber eben nur das Medium. Durch den unabhängigen und
interesselosen Cultus der Schönheit erhebt die Kunst die Seele und arbeitet
so, ohne daran zu denken, dem höchsten Zweck deS Lebens, der sittlichen Ver¬
vollkommnung deS Menschengeschlechts in die Hände. -- An diese Ideen knüpft
Cousin eine historische Auseinandersetzung, welche sämmtliche Gebiete der Kunst
umfaßt und ohne den Anforderungen, die man an eine ernste Kritik stellen muß,



*) Sehr beochtenswerthe Studien enthalten die Schriften von Qnatremsre de Quincy:
Oorisi<I<zrs.lions morales sur I" <1o8tin"lion <Zvs ouvrages 6s 1'art -1813 und Lssai sur 1'lass-l
Aauh öff "pplications xrsti-^riSL.

Vorlesungen Du vrsi, clri dssu, ein Kien in der Sorbonne 1818 wurden zuerst
1838 von einem Schüler, dann durch Cousin selbst mit nicht unwesentlichen
Zusätzen 18es herausgegeben.*)

Er sucht zuerst den Begriff des Schönen im menschlichen Geist nachzu¬
weisen, dann die Darstellung desselben in der Natur, endlich den vollendeten
Ausdruck desselben in der Kunst. Man erkennt in dieser Dialektik den Einfluß
Hegels und findet in den Begriffsbestimmungen wenig, was nicht in der deut¬
schen Philosophie vollständiger und besser ausgedrückt wäre. Das Interesse
deS Buchs liegt in der Anwendung der von den Deutschen entnommenen Ge¬
danken auf die französische Cultur. Cousin zeigt, daß die Vernachlässigung
der Aesthetik bei der Philosophie deS vorigen Jahrhunderts aus dem Wesen der
Sache hervorging. Eine Philosophie, die alle Ideen aus sinnlicher Empfindung
herleitete, konnte sich zu der Je>ce einer interesselosen Bewunderung nicht auf¬
schwingen. DaS Erhabene macht sich nur geltend, wenn Furcht und Begierde
schweigt. Wer nur die letztere gelten läßt,, verleugnet die Grundlage der Aesthe¬
tik. Nur der Verfasser des Phädon konnte den Phädrus und das Symposion
schreiben; nur der Spiritualismus kann eine Philosophie der Kunst geben. So
lange die Kräfte der Seele, Vernunft, Gefühl, Einbildungskraft sich sondern,
ist künstlerisches Schaffen unmöglich; nur die gleichmäßige Ausbildung und
Vermählung dieser verschiedenen Kräfte bringt den Geschmack und jene Reife
der Seele hervor, die daS erste Erfordernis; der Kunst ist. — Die Gedanken sind
uns bekannt; aber, für Frankreich war es von der größten Wichtigkeit, in dieser
lebendigen, schönen und ergreifenden Sprache, welche die gesammte Jugend
entzündete, daS Vorgefühl einer neuen Kunstentwicklung zu empfangen.—^^n
folgerichtiger Durchführung seines Princips verwirft Cousin die gemeine Nach¬
ahmung der Natur und predigt den Idealismus. Die Poesie stellt er als die
erste Kunst dar, als diejenige, die jeder Kunst zu Grunde liegen müsse. Die
Kunst hat die Aufgabe, Ideen auszudrücken, das Sinnliche hat in ihr nur so
weit Bürgerrecht, als es den Geist durchscheinen läßt. Auf dem Antlitz der
Natur wie aus dem Antlitz des Menschen müssen wir die Spuren Gottes er¬
kennen, um sie poetisch darzustellen. Die Sinnlichkeit ist das nothwendige Me¬
dium der Kunst; aber eben nur das Medium. Durch den unabhängigen und
interesselosen Cultus der Schönheit erhebt die Kunst die Seele und arbeitet
so, ohne daran zu denken, dem höchsten Zweck deS Lebens, der sittlichen Ver¬
vollkommnung deS Menschengeschlechts in die Hände. — An diese Ideen knüpft
Cousin eine historische Auseinandersetzung, welche sämmtliche Gebiete der Kunst
umfaßt und ohne den Anforderungen, die man an eine ernste Kritik stellen muß,



*) Sehr beochtenswerthe Studien enthalten die Schriften von Qnatremsre de Quincy:
Oorisi<I<zrs.lions morales sur I» <1o8tin»lion <Zvs ouvrages 6s 1'art -1813 und Lssai sur 1'lass-l
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[0350] Vorlesungen Du vrsi, clri dssu, ein Kien in der Sorbonne 1818 wurden zuerst 1838 von einem Schüler, dann durch Cousin selbst mit nicht unwesentlichen Zusätzen 18es herausgegeben.*) Er sucht zuerst den Begriff des Schönen im menschlichen Geist nachzu¬ weisen, dann die Darstellung desselben in der Natur, endlich den vollendeten Ausdruck desselben in der Kunst. Man erkennt in dieser Dialektik den Einfluß Hegels und findet in den Begriffsbestimmungen wenig, was nicht in der deut¬ schen Philosophie vollständiger und besser ausgedrückt wäre. Das Interesse deS Buchs liegt in der Anwendung der von den Deutschen entnommenen Ge¬ danken auf die französische Cultur. Cousin zeigt, daß die Vernachlässigung der Aesthetik bei der Philosophie deS vorigen Jahrhunderts aus dem Wesen der Sache hervorging. Eine Philosophie, die alle Ideen aus sinnlicher Empfindung herleitete, konnte sich zu der Je>ce einer interesselosen Bewunderung nicht auf¬ schwingen. DaS Erhabene macht sich nur geltend, wenn Furcht und Begierde schweigt. Wer nur die letztere gelten läßt,, verleugnet die Grundlage der Aesthe¬ tik. Nur der Verfasser des Phädon konnte den Phädrus und das Symposion schreiben; nur der Spiritualismus kann eine Philosophie der Kunst geben. So lange die Kräfte der Seele, Vernunft, Gefühl, Einbildungskraft sich sondern, ist künstlerisches Schaffen unmöglich; nur die gleichmäßige Ausbildung und Vermählung dieser verschiedenen Kräfte bringt den Geschmack und jene Reife der Seele hervor, die daS erste Erfordernis; der Kunst ist. — Die Gedanken sind uns bekannt; aber, für Frankreich war es von der größten Wichtigkeit, in dieser lebendigen, schönen und ergreifenden Sprache, welche die gesammte Jugend entzündete, daS Vorgefühl einer neuen Kunstentwicklung zu empfangen.—^^n folgerichtiger Durchführung seines Princips verwirft Cousin die gemeine Nach¬ ahmung der Natur und predigt den Idealismus. Die Poesie stellt er als die erste Kunst dar, als diejenige, die jeder Kunst zu Grunde liegen müsse. Die Kunst hat die Aufgabe, Ideen auszudrücken, das Sinnliche hat in ihr nur so weit Bürgerrecht, als es den Geist durchscheinen läßt. Auf dem Antlitz der Natur wie aus dem Antlitz des Menschen müssen wir die Spuren Gottes er¬ kennen, um sie poetisch darzustellen. Die Sinnlichkeit ist das nothwendige Me¬ dium der Kunst; aber eben nur das Medium. Durch den unabhängigen und interesselosen Cultus der Schönheit erhebt die Kunst die Seele und arbeitet so, ohne daran zu denken, dem höchsten Zweck deS Lebens, der sittlichen Ver¬ vollkommnung deS Menschengeschlechts in die Hände. — An diese Ideen knüpft Cousin eine historische Auseinandersetzung, welche sämmtliche Gebiete der Kunst umfaßt und ohne den Anforderungen, die man an eine ernste Kritik stellen muß, *) Sehr beochtenswerthe Studien enthalten die Schriften von Qnatremsre de Quincy: Oorisi<I<zrs.lions morales sur I» <1o8tin»lion <Zvs ouvrages 6s 1'art -1813 und Lssai sur 1'lass-l Aauh öff »pplications xrsti-^riSL.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/350>, abgerufen am 22.07.2024.