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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Talent ohne Gleichen. Seine biegsame Stimme eignete sich für die feine
Ironie, wie für daS leidenschaftliche Pathos; sein Gesicht, seine Augen, seine
Geberde, alles war sprechend. Mit dem Anschein einer unmittelbaren Impro¬
visation, die der Eingebung des Augenblicks folgte, verband er eine feine
Berechnung deS Effects. Man subtle den Künstler heraus, auch wo er zu
plaudern schien, und phantastisch drängten sich die Schattenbilder der deutschen
Abstraktion durch die lebendig bewegte Wirklichkeit, die das hauptsächliche
Interesse in Anspruch nahm. ES galt den Jakobinern, wenn er gegen die
dialektischen Irrthümer der Sensualisten sich erhob; es galt der Reaction, wenn
er die Fehlschlusse Bonalds aufdeckte. ES war der ganze Inhalt deS Libera¬
lismus, den man bei ihm wiederfand, aber verklärt durch den idealen Schauer
höherer Ideen. Der Philosoph verkündete daS Reich des Geistes, und doch
nahm er den gesunden Menschenverstand zum höchsten Richter. Er ging auf
die Traditionen des Alterthums und des Mittelalters ein, und doch verknüpf¬
ten sich alle Fäden seines Gedankens mit der Gegenwart. Es kam ihm da¬
rauf an, die Idee der Freiheit zu verherrlichen, den Erwerb der Revolution
festzuhalten und doch daS Herz mit dem Bewußtsein Gottes zu durchdringen.
Die neue Philosophie verhieß, wie die alte des 18. Jahrhunderts, dem Men¬
schengeschlecht das höchste Glück, aber sie suchte es in der Ideenwelt. "Man
fragt, wohin die Menschheit geht; fragen wir lieber, was sie soll. Was sein
wird, ist uns dunkel, aber nicht, was wir thun sollen. Es' gibt unerschütter¬
liche Grundsätze, die ausreichen, uns im beständigen Wechsel der Dinge durch
alle Prüfungen zu leiten. Sie sind einfach und von einer unermeßlichen Trag¬
weite. Der Aermste an Geist kann sie begreifen und ausüben, und sie ent¬
halten das Gesammtgebiet der Pflichten für den Einzelnen wie für die Na¬
tion." --

Auf diesen männlichen Idealismus legen die Vorlesungen von 1815--1820
den hauptsächlichen Nachdruck. "Eine Philosophie, die nicht in die Moral,
ausmündet, ist dieses Namens nicht werth, und eine Moral, die nicht wenig¬
stens die allgemeinen Gesichtspunkte für die Regelung des öffentlichen Lebens
gibt, ist ohnmächtig." Es war ein edles Schauspiel in einer Zeit, wo die
Charaktere zwischen einem wilden Materialismus und einer düstern Ascetik
schwankten, eine männliche Stimme zu hören, die der Stolz der Freiheit, die
vornehme Empfindung einer durch sich selbst getragenen Sittlichkeit erregte.
Er zeigt, daß eS nicht darauf ankommt, von einem abstracten System auszu¬
gehen und die Wirklichkeit in dasselbe einzuzwängen. Die philosophischen Sy¬
steme folgen der Zeit mehr, als daß sie dieselbe lenken; sie empfangen ihren
Geist aus den Händen deS Jahrhunderts. Der Sensualismus ging aus der
Reaction gegen die eintönige stoische Moral hervor, welche, um die Seele von
den Leidenschaften zu reinigen, ein Opfer der natürlichen Triebe forderte, das


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Talent ohne Gleichen. Seine biegsame Stimme eignete sich für die feine
Ironie, wie für daS leidenschaftliche Pathos; sein Gesicht, seine Augen, seine
Geberde, alles war sprechend. Mit dem Anschein einer unmittelbaren Impro¬
visation, die der Eingebung des Augenblicks folgte, verband er eine feine
Berechnung deS Effects. Man subtle den Künstler heraus, auch wo er zu
plaudern schien, und phantastisch drängten sich die Schattenbilder der deutschen
Abstraktion durch die lebendig bewegte Wirklichkeit, die das hauptsächliche
Interesse in Anspruch nahm. ES galt den Jakobinern, wenn er gegen die
dialektischen Irrthümer der Sensualisten sich erhob; es galt der Reaction, wenn
er die Fehlschlusse Bonalds aufdeckte. ES war der ganze Inhalt deS Libera¬
lismus, den man bei ihm wiederfand, aber verklärt durch den idealen Schauer
höherer Ideen. Der Philosoph verkündete daS Reich des Geistes, und doch
nahm er den gesunden Menschenverstand zum höchsten Richter. Er ging auf
die Traditionen des Alterthums und des Mittelalters ein, und doch verknüpf¬
ten sich alle Fäden seines Gedankens mit der Gegenwart. Es kam ihm da¬
rauf an, die Idee der Freiheit zu verherrlichen, den Erwerb der Revolution
festzuhalten und doch daS Herz mit dem Bewußtsein Gottes zu durchdringen.
Die neue Philosophie verhieß, wie die alte des 18. Jahrhunderts, dem Men¬
schengeschlecht das höchste Glück, aber sie suchte es in der Ideenwelt. „Man
fragt, wohin die Menschheit geht; fragen wir lieber, was sie soll. Was sein
wird, ist uns dunkel, aber nicht, was wir thun sollen. Es' gibt unerschütter¬
liche Grundsätze, die ausreichen, uns im beständigen Wechsel der Dinge durch
alle Prüfungen zu leiten. Sie sind einfach und von einer unermeßlichen Trag¬
weite. Der Aermste an Geist kann sie begreifen und ausüben, und sie ent¬
halten das Gesammtgebiet der Pflichten für den Einzelnen wie für die Na¬
tion." —

Auf diesen männlichen Idealismus legen die Vorlesungen von 1815—1820
den hauptsächlichen Nachdruck. „Eine Philosophie, die nicht in die Moral,
ausmündet, ist dieses Namens nicht werth, und eine Moral, die nicht wenig¬
stens die allgemeinen Gesichtspunkte für die Regelung des öffentlichen Lebens
gibt, ist ohnmächtig." Es war ein edles Schauspiel in einer Zeit, wo die
Charaktere zwischen einem wilden Materialismus und einer düstern Ascetik
schwankten, eine männliche Stimme zu hören, die der Stolz der Freiheit, die
vornehme Empfindung einer durch sich selbst getragenen Sittlichkeit erregte.
Er zeigt, daß eS nicht darauf ankommt, von einem abstracten System auszu¬
gehen und die Wirklichkeit in dasselbe einzuzwängen. Die philosophischen Sy¬
steme folgen der Zeit mehr, als daß sie dieselbe lenken; sie empfangen ihren
Geist aus den Händen deS Jahrhunderts. Der Sensualismus ging aus der
Reaction gegen die eintönige stoische Moral hervor, welche, um die Seele von
den Leidenschaften zu reinigen, ein Opfer der natürlichen Triebe forderte, das


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[0347] Talent ohne Gleichen. Seine biegsame Stimme eignete sich für die feine Ironie, wie für daS leidenschaftliche Pathos; sein Gesicht, seine Augen, seine Geberde, alles war sprechend. Mit dem Anschein einer unmittelbaren Impro¬ visation, die der Eingebung des Augenblicks folgte, verband er eine feine Berechnung deS Effects. Man subtle den Künstler heraus, auch wo er zu plaudern schien, und phantastisch drängten sich die Schattenbilder der deutschen Abstraktion durch die lebendig bewegte Wirklichkeit, die das hauptsächliche Interesse in Anspruch nahm. ES galt den Jakobinern, wenn er gegen die dialektischen Irrthümer der Sensualisten sich erhob; es galt der Reaction, wenn er die Fehlschlusse Bonalds aufdeckte. ES war der ganze Inhalt deS Libera¬ lismus, den man bei ihm wiederfand, aber verklärt durch den idealen Schauer höherer Ideen. Der Philosoph verkündete daS Reich des Geistes, und doch nahm er den gesunden Menschenverstand zum höchsten Richter. Er ging auf die Traditionen des Alterthums und des Mittelalters ein, und doch verknüpf¬ ten sich alle Fäden seines Gedankens mit der Gegenwart. Es kam ihm da¬ rauf an, die Idee der Freiheit zu verherrlichen, den Erwerb der Revolution festzuhalten und doch daS Herz mit dem Bewußtsein Gottes zu durchdringen. Die neue Philosophie verhieß, wie die alte des 18. Jahrhunderts, dem Men¬ schengeschlecht das höchste Glück, aber sie suchte es in der Ideenwelt. „Man fragt, wohin die Menschheit geht; fragen wir lieber, was sie soll. Was sein wird, ist uns dunkel, aber nicht, was wir thun sollen. Es' gibt unerschütter¬ liche Grundsätze, die ausreichen, uns im beständigen Wechsel der Dinge durch alle Prüfungen zu leiten. Sie sind einfach und von einer unermeßlichen Trag¬ weite. Der Aermste an Geist kann sie begreifen und ausüben, und sie ent¬ halten das Gesammtgebiet der Pflichten für den Einzelnen wie für die Na¬ tion." — Auf diesen männlichen Idealismus legen die Vorlesungen von 1815—1820 den hauptsächlichen Nachdruck. „Eine Philosophie, die nicht in die Moral, ausmündet, ist dieses Namens nicht werth, und eine Moral, die nicht wenig¬ stens die allgemeinen Gesichtspunkte für die Regelung des öffentlichen Lebens gibt, ist ohnmächtig." Es war ein edles Schauspiel in einer Zeit, wo die Charaktere zwischen einem wilden Materialismus und einer düstern Ascetik schwankten, eine männliche Stimme zu hören, die der Stolz der Freiheit, die vornehme Empfindung einer durch sich selbst getragenen Sittlichkeit erregte. Er zeigt, daß eS nicht darauf ankommt, von einem abstracten System auszu¬ gehen und die Wirklichkeit in dasselbe einzuzwängen. Die philosophischen Sy¬ steme folgen der Zeit mehr, als daß sie dieselbe lenken; sie empfangen ihren Geist aus den Händen deS Jahrhunderts. Der Sensualismus ging aus der Reaction gegen die eintönige stoische Moral hervor, welche, um die Seele von den Leidenschaften zu reinigen, ein Opfer der natürlichen Triebe forderte, das 43*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/347>, abgerufen am 22.07.2024.