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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Begriff deS menschlichen Geistes gegründet, die übersinnlichen Ideen nicht als
Voraussetzung, sondern als Resultat der Jugend verkündigen sollte. Nicht
von dem voraussetzungslosen Drang der Wahrheit, sondern von einem Be¬
dürfniß des Herzens und des Pflichtgefühls getrieben, ging er an seine Aus¬
gabe, für die er aber einen breitern und umfassenderen Rahmen suchte, als
seine Vorgänger. Sie hatten sich auf eine einzelne Disciplin eingeschränkt,
und gleich ihren Gegnern, den Sensualisten, die frühere Entwicklung der Phi¬
losophie als etwas Gleichgiltiges bei Seite gelassen. Cousin stellte sich den
doppelten Zweck: mit der neugewonnenen Idee der sittlichen Freiheit alle Zweige
der Wissenschaft zu durchdringen; und den abgebrochenen Zusammenhang mit
der Vorzeit durch Wiederaufnahme der philosophischen Tradition herzustellen,
in der Geschichte der Philosophie einen bleibenden Fortschritt nachzuweisen und
ohne Bevorzugung eines einzelnen Systems von jedem frühern Philosophen
diejenigen Sätze, die etwas Bleibendes enthielten, in das Inventarium des
geistigen Besitzes aufzunehmen. Cousin war kein Erfinder. Empfänglich für
jeden tiefen Gedanken und rasch bereit, ihm eine rhetorische Form zu geben,
hatte er doch aus sich selbst heraus wenig zu schöpfen. Er war darauf an¬
gewiesen, sich auf fremde Forschungen zu stützen, und auch diesen kam er nicht
mit einem geschlossenen System, sondern nur mit einer Reihe von Wünschen
und Sympathien entgegen. Dies ist die Entstehung des Eklekticismus,
der die französische Literatur mit einer überraschenden Fülle tiefer Gedanken
bereichert, den historischen Blick erweitert, für die Wissenschaft aber wenig
bleibende Resultate geliefert hat. Da Cousin als ganz junger Mann sein
Lehramt antrat, so versteht sich von selbst, daß seine Philosophie sich nur
allmälig entwickelte und mannigfache Wandlungen durchmachte. Die Rich¬
tung seines Talents stellt sich aber gleich zu Anfang heraus. Wir sehen bei
ihm nicht den Trieb, die Begriffe und Ideen mit strenger, unausgesetzter Auf¬
merksamkeit zu prüfen, dem gewöhnlichen Urtheil zu mißtrauen, von der all¬
gemeinen Wahrheit die Probe für alle einzelnen Fälle zu machen, in den
Ausdrücken genau zu sein und nichts zu sagen, als was vollständig festgestellt
ist; nichts von jener Freude an der Analyse, die alle Wünsche deS Herzens
Zurückdrängt, um in die Sachen einzudringen. Wir finden im Gegentheil das
Bedürfniß, bei der öffentlichen Meinung stehen zu bleiben, auf das Gefühl
und die Einbildungskraft zu wirken und die Wahrheiten, für die es an dia-
lektischen Beweismitteln fehlt, durch daS Gewissen einzuschärfen, mit einem
Wort, Cousin ist der ursprünglichen Anlage seines Geistes nach nicht specu-
lativer Philosoph, sondern Redner. Als Redner besitzt er ein Talent ersten
Ranges, und ein sorgfältiges Studium seiner Schriften, sobald eS sich nicht
um streng wissenschaftliche Wahrheiten handelt, sondern um Ideen, die man
der Seele empfehlen und einschmeicheln will, würde für jeden, der sich in


Grenzboten. III. 18ö7. 43

Begriff deS menschlichen Geistes gegründet, die übersinnlichen Ideen nicht als
Voraussetzung, sondern als Resultat der Jugend verkündigen sollte. Nicht
von dem voraussetzungslosen Drang der Wahrheit, sondern von einem Be¬
dürfniß des Herzens und des Pflichtgefühls getrieben, ging er an seine Aus¬
gabe, für die er aber einen breitern und umfassenderen Rahmen suchte, als
seine Vorgänger. Sie hatten sich auf eine einzelne Disciplin eingeschränkt,
und gleich ihren Gegnern, den Sensualisten, die frühere Entwicklung der Phi¬
losophie als etwas Gleichgiltiges bei Seite gelassen. Cousin stellte sich den
doppelten Zweck: mit der neugewonnenen Idee der sittlichen Freiheit alle Zweige
der Wissenschaft zu durchdringen; und den abgebrochenen Zusammenhang mit
der Vorzeit durch Wiederaufnahme der philosophischen Tradition herzustellen,
in der Geschichte der Philosophie einen bleibenden Fortschritt nachzuweisen und
ohne Bevorzugung eines einzelnen Systems von jedem frühern Philosophen
diejenigen Sätze, die etwas Bleibendes enthielten, in das Inventarium des
geistigen Besitzes aufzunehmen. Cousin war kein Erfinder. Empfänglich für
jeden tiefen Gedanken und rasch bereit, ihm eine rhetorische Form zu geben,
hatte er doch aus sich selbst heraus wenig zu schöpfen. Er war darauf an¬
gewiesen, sich auf fremde Forschungen zu stützen, und auch diesen kam er nicht
mit einem geschlossenen System, sondern nur mit einer Reihe von Wünschen
und Sympathien entgegen. Dies ist die Entstehung des Eklekticismus,
der die französische Literatur mit einer überraschenden Fülle tiefer Gedanken
bereichert, den historischen Blick erweitert, für die Wissenschaft aber wenig
bleibende Resultate geliefert hat. Da Cousin als ganz junger Mann sein
Lehramt antrat, so versteht sich von selbst, daß seine Philosophie sich nur
allmälig entwickelte und mannigfache Wandlungen durchmachte. Die Rich¬
tung seines Talents stellt sich aber gleich zu Anfang heraus. Wir sehen bei
ihm nicht den Trieb, die Begriffe und Ideen mit strenger, unausgesetzter Auf¬
merksamkeit zu prüfen, dem gewöhnlichen Urtheil zu mißtrauen, von der all¬
gemeinen Wahrheit die Probe für alle einzelnen Fälle zu machen, in den
Ausdrücken genau zu sein und nichts zu sagen, als was vollständig festgestellt
ist; nichts von jener Freude an der Analyse, die alle Wünsche deS Herzens
Zurückdrängt, um in die Sachen einzudringen. Wir finden im Gegentheil das
Bedürfniß, bei der öffentlichen Meinung stehen zu bleiben, auf das Gefühl
und die Einbildungskraft zu wirken und die Wahrheiten, für die es an dia-
lektischen Beweismitteln fehlt, durch daS Gewissen einzuschärfen, mit einem
Wort, Cousin ist der ursprünglichen Anlage seines Geistes nach nicht specu-
lativer Philosoph, sondern Redner. Als Redner besitzt er ein Talent ersten
Ranges, und ein sorgfältiges Studium seiner Schriften, sobald eS sich nicht
um streng wissenschaftliche Wahrheiten handelt, sondern um Ideen, die man
der Seele empfehlen und einschmeicheln will, würde für jeden, der sich in


Grenzboten. III. 18ö7. 43
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[0345] Begriff deS menschlichen Geistes gegründet, die übersinnlichen Ideen nicht als Voraussetzung, sondern als Resultat der Jugend verkündigen sollte. Nicht von dem voraussetzungslosen Drang der Wahrheit, sondern von einem Be¬ dürfniß des Herzens und des Pflichtgefühls getrieben, ging er an seine Aus¬ gabe, für die er aber einen breitern und umfassenderen Rahmen suchte, als seine Vorgänger. Sie hatten sich auf eine einzelne Disciplin eingeschränkt, und gleich ihren Gegnern, den Sensualisten, die frühere Entwicklung der Phi¬ losophie als etwas Gleichgiltiges bei Seite gelassen. Cousin stellte sich den doppelten Zweck: mit der neugewonnenen Idee der sittlichen Freiheit alle Zweige der Wissenschaft zu durchdringen; und den abgebrochenen Zusammenhang mit der Vorzeit durch Wiederaufnahme der philosophischen Tradition herzustellen, in der Geschichte der Philosophie einen bleibenden Fortschritt nachzuweisen und ohne Bevorzugung eines einzelnen Systems von jedem frühern Philosophen diejenigen Sätze, die etwas Bleibendes enthielten, in das Inventarium des geistigen Besitzes aufzunehmen. Cousin war kein Erfinder. Empfänglich für jeden tiefen Gedanken und rasch bereit, ihm eine rhetorische Form zu geben, hatte er doch aus sich selbst heraus wenig zu schöpfen. Er war darauf an¬ gewiesen, sich auf fremde Forschungen zu stützen, und auch diesen kam er nicht mit einem geschlossenen System, sondern nur mit einer Reihe von Wünschen und Sympathien entgegen. Dies ist die Entstehung des Eklekticismus, der die französische Literatur mit einer überraschenden Fülle tiefer Gedanken bereichert, den historischen Blick erweitert, für die Wissenschaft aber wenig bleibende Resultate geliefert hat. Da Cousin als ganz junger Mann sein Lehramt antrat, so versteht sich von selbst, daß seine Philosophie sich nur allmälig entwickelte und mannigfache Wandlungen durchmachte. Die Rich¬ tung seines Talents stellt sich aber gleich zu Anfang heraus. Wir sehen bei ihm nicht den Trieb, die Begriffe und Ideen mit strenger, unausgesetzter Auf¬ merksamkeit zu prüfen, dem gewöhnlichen Urtheil zu mißtrauen, von der all¬ gemeinen Wahrheit die Probe für alle einzelnen Fälle zu machen, in den Ausdrücken genau zu sein und nichts zu sagen, als was vollständig festgestellt ist; nichts von jener Freude an der Analyse, die alle Wünsche deS Herzens Zurückdrängt, um in die Sachen einzudringen. Wir finden im Gegentheil das Bedürfniß, bei der öffentlichen Meinung stehen zu bleiben, auf das Gefühl und die Einbildungskraft zu wirken und die Wahrheiten, für die es an dia- lektischen Beweismitteln fehlt, durch daS Gewissen einzuschärfen, mit einem Wort, Cousin ist der ursprünglichen Anlage seines Geistes nach nicht specu- lativer Philosoph, sondern Redner. Als Redner besitzt er ein Talent ersten Ranges, und ein sorgfältiges Studium seiner Schriften, sobald eS sich nicht um streng wissenschaftliche Wahrheiten handelt, sondern um Ideen, die man der Seele empfehlen und einschmeicheln will, würde für jeden, der sich in Grenzboten. III. 18ö7. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/345>, abgerufen am 22.07.2024.