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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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an den Rand deS Grabes mitnimmt! Welche Thoren waren die politischen
Enthusiasten des Jahres 18i8, die jene verlorenen deutschen Länder an der
Ostsee wach rütteln wollten! Die Revolution durchbrauste alle Länder deutscher
Zunge -- dort bewegte sie tun Ständchen von seinem Platze. Allerdings
wurden die Leute lebendig, aber die einzige Triebfeder war die Neugierde.
Man amüsirte sich über jedes lustige Stückchen jener Geschichte und pries sich
glücklich, ohne von den hochgehenden'Wogen der Völkerbewegung molestirt zu
sein, in Ruhe die Nachrichten darüber in den übel redigirten dorpatschen und
rigaischen Zeitungen lesen zu dürfen. Und später, als der Ausbruch deS orien¬
talischen Krieges ihnen den Schauplatz der Ereignisse näher rückte, da standen
sie im Gefühle des Bedrohtseins fest zu dem Kaiser, wenn sie auch im Gehei¬
men seinen Eigensinn mißbilligten. So lebt man politisch stets für den Augen¬
blick, quietistisch die Zukunft sich aus dem Sinn schlagend. Jagd, Spiel, Be¬
suche in der Nachbarschaft und ein paar Mal im Jahre die rauschendem Ver¬
gnügungen des städtischen Lebens füllen die Mußestunden aus; selten finden
wissenschaftliche oder künstlerische Liebhabereien ihre Pflege bei den Männern. In
Esthland vorzüglich ist es neuerdings recht Mode geworden, das Domgymnasium
höchstens bis Tertia zu besuchen und dann sich entweder dem Kriegsdienste zu
widmen oder sich sogleich auf seine Güter zurückzuziehen. Die Livländer haben von
jeher mehr Abneigung vor dem Militärdienste gezeigt, und in neuerer Zeit haben
sich mehre Barone dem ernstern Fachstudium zugewendet; allein im Allgemeinen
ist eine gewisse Oberflächlichkeit der Bildung auch in Livland nicht zu verkennen.
Sie wird überall übertüncht durch gesellige Formenschönheit, feine Tournüre
und eine Sicherheit im Auftreten, die der dortigen Jugend beinähe angeboren
zu sein scheint; aber man höre die Klagen fast aller ausländischen Lehrer über
diese Jugend.

Wenden wir uns zu den Frauen, welche unterdeß eine gesonderte Unter¬
haltung geführt haben. Sie sprechen eben von Familienangelegenheiten und wir
haben Ursache, die erstaunlichen Kenntnisse zu bewundern, die jede von den
Verhältnissen der entferntesten Familien entwickelt. Nicht blos ist es die viel¬
fache Verkettung und Verschwägerung der Sippschaften untereinander, welche
die Theilnahme aller an jedem Einzelnen steigert, sondern es weckt auch die
Isolirtheit des Landlebens das Interesse an dem Nächsten, anstatt, wie man
glauben sollte, es zu ertödten. So gleicht jede Provinz in diesem Punkte
einer kleinen Stadt und jetzt begreisen wir erst, was man uns in Reval ver¬
sichert hat, daß nämlich Kotzebue seine "Kleinstädter" in vielfacher Beziehung
grade auf dortige ländliche Verhältnisse geschrieben habe. Aber die Damen
sind so artig, dieses Thema bald'fallen zu lassen und überraschen uns durch
ihre Belesenheit, wenn wir die Conversation auf das schönwisscnschaftliche Ge¬
biet führen. Freilich sind sie in ihrer Lectüre sehr erclusiv nach zwei Rich-


an den Rand deS Grabes mitnimmt! Welche Thoren waren die politischen
Enthusiasten des Jahres 18i8, die jene verlorenen deutschen Länder an der
Ostsee wach rütteln wollten! Die Revolution durchbrauste alle Länder deutscher
Zunge — dort bewegte sie tun Ständchen von seinem Platze. Allerdings
wurden die Leute lebendig, aber die einzige Triebfeder war die Neugierde.
Man amüsirte sich über jedes lustige Stückchen jener Geschichte und pries sich
glücklich, ohne von den hochgehenden'Wogen der Völkerbewegung molestirt zu
sein, in Ruhe die Nachrichten darüber in den übel redigirten dorpatschen und
rigaischen Zeitungen lesen zu dürfen. Und später, als der Ausbruch deS orien¬
talischen Krieges ihnen den Schauplatz der Ereignisse näher rückte, da standen
sie im Gefühle des Bedrohtseins fest zu dem Kaiser, wenn sie auch im Gehei¬
men seinen Eigensinn mißbilligten. So lebt man politisch stets für den Augen¬
blick, quietistisch die Zukunft sich aus dem Sinn schlagend. Jagd, Spiel, Be¬
suche in der Nachbarschaft und ein paar Mal im Jahre die rauschendem Ver¬
gnügungen des städtischen Lebens füllen die Mußestunden aus; selten finden
wissenschaftliche oder künstlerische Liebhabereien ihre Pflege bei den Männern. In
Esthland vorzüglich ist es neuerdings recht Mode geworden, das Domgymnasium
höchstens bis Tertia zu besuchen und dann sich entweder dem Kriegsdienste zu
widmen oder sich sogleich auf seine Güter zurückzuziehen. Die Livländer haben von
jeher mehr Abneigung vor dem Militärdienste gezeigt, und in neuerer Zeit haben
sich mehre Barone dem ernstern Fachstudium zugewendet; allein im Allgemeinen
ist eine gewisse Oberflächlichkeit der Bildung auch in Livland nicht zu verkennen.
Sie wird überall übertüncht durch gesellige Formenschönheit, feine Tournüre
und eine Sicherheit im Auftreten, die der dortigen Jugend beinähe angeboren
zu sein scheint; aber man höre die Klagen fast aller ausländischen Lehrer über
diese Jugend.

Wenden wir uns zu den Frauen, welche unterdeß eine gesonderte Unter¬
haltung geführt haben. Sie sprechen eben von Familienangelegenheiten und wir
haben Ursache, die erstaunlichen Kenntnisse zu bewundern, die jede von den
Verhältnissen der entferntesten Familien entwickelt. Nicht blos ist es die viel¬
fache Verkettung und Verschwägerung der Sippschaften untereinander, welche
die Theilnahme aller an jedem Einzelnen steigert, sondern es weckt auch die
Isolirtheit des Landlebens das Interesse an dem Nächsten, anstatt, wie man
glauben sollte, es zu ertödten. So gleicht jede Provinz in diesem Punkte
einer kleinen Stadt und jetzt begreisen wir erst, was man uns in Reval ver¬
sichert hat, daß nämlich Kotzebue seine „Kleinstädter" in vielfacher Beziehung
grade auf dortige ländliche Verhältnisse geschrieben habe. Aber die Damen
sind so artig, dieses Thema bald'fallen zu lassen und überraschen uns durch
ihre Belesenheit, wenn wir die Conversation auf das schönwisscnschaftliche Ge¬
biet führen. Freilich sind sie in ihrer Lectüre sehr erclusiv nach zwei Rich-


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[0316] an den Rand deS Grabes mitnimmt! Welche Thoren waren die politischen Enthusiasten des Jahres 18i8, die jene verlorenen deutschen Länder an der Ostsee wach rütteln wollten! Die Revolution durchbrauste alle Länder deutscher Zunge — dort bewegte sie tun Ständchen von seinem Platze. Allerdings wurden die Leute lebendig, aber die einzige Triebfeder war die Neugierde. Man amüsirte sich über jedes lustige Stückchen jener Geschichte und pries sich glücklich, ohne von den hochgehenden'Wogen der Völkerbewegung molestirt zu sein, in Ruhe die Nachrichten darüber in den übel redigirten dorpatschen und rigaischen Zeitungen lesen zu dürfen. Und später, als der Ausbruch deS orien¬ talischen Krieges ihnen den Schauplatz der Ereignisse näher rückte, da standen sie im Gefühle des Bedrohtseins fest zu dem Kaiser, wenn sie auch im Gehei¬ men seinen Eigensinn mißbilligten. So lebt man politisch stets für den Augen¬ blick, quietistisch die Zukunft sich aus dem Sinn schlagend. Jagd, Spiel, Be¬ suche in der Nachbarschaft und ein paar Mal im Jahre die rauschendem Ver¬ gnügungen des städtischen Lebens füllen die Mußestunden aus; selten finden wissenschaftliche oder künstlerische Liebhabereien ihre Pflege bei den Männern. In Esthland vorzüglich ist es neuerdings recht Mode geworden, das Domgymnasium höchstens bis Tertia zu besuchen und dann sich entweder dem Kriegsdienste zu widmen oder sich sogleich auf seine Güter zurückzuziehen. Die Livländer haben von jeher mehr Abneigung vor dem Militärdienste gezeigt, und in neuerer Zeit haben sich mehre Barone dem ernstern Fachstudium zugewendet; allein im Allgemeinen ist eine gewisse Oberflächlichkeit der Bildung auch in Livland nicht zu verkennen. Sie wird überall übertüncht durch gesellige Formenschönheit, feine Tournüre und eine Sicherheit im Auftreten, die der dortigen Jugend beinähe angeboren zu sein scheint; aber man höre die Klagen fast aller ausländischen Lehrer über diese Jugend. Wenden wir uns zu den Frauen, welche unterdeß eine gesonderte Unter¬ haltung geführt haben. Sie sprechen eben von Familienangelegenheiten und wir haben Ursache, die erstaunlichen Kenntnisse zu bewundern, die jede von den Verhältnissen der entferntesten Familien entwickelt. Nicht blos ist es die viel¬ fache Verkettung und Verschwägerung der Sippschaften untereinander, welche die Theilnahme aller an jedem Einzelnen steigert, sondern es weckt auch die Isolirtheit des Landlebens das Interesse an dem Nächsten, anstatt, wie man glauben sollte, es zu ertödten. So gleicht jede Provinz in diesem Punkte einer kleinen Stadt und jetzt begreisen wir erst, was man uns in Reval ver¬ sichert hat, daß nämlich Kotzebue seine „Kleinstädter" in vielfacher Beziehung grade auf dortige ländliche Verhältnisse geschrieben habe. Aber die Damen sind so artig, dieses Thema bald'fallen zu lassen und überraschen uns durch ihre Belesenheit, wenn wir die Conversation auf das schönwisscnschaftliche Ge¬ biet führen. Freilich sind sie in ihrer Lectüre sehr erclusiv nach zwei Rich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/316>, abgerufen am 22.07.2024.