Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

liebe Bequemlichkeit berechnet, als auf äußere Eleganz und gemessene Ueberein¬
stimmung. Denselben anheimelnden äußern Eindruck macht auch das alte Reval. Es
hat die mittelalterliche Romantik der Bauart mit der livländischen Schwesterstadt
gemein, übertrifft die letztere aber noch durch seine wunderschöne Lage am finni¬
schen Golfe, so wie dadurch, daß es an seinem Domberge, wenn auch keine
schützende Citadelle (wie die Zeitungsschreiber während deS orientalisch-russischen
Krieges immer behaupteten), so doch einen Mittel - und Stützpunkt sür das
Auge des Beschauers besitzt. Auch unter den Bewohnern der beiden Städte
sühlt man sich bald heimisch, wenn man ihr freundliches Entgegenkommen und
ihr reges Interesse an deutschen Zuständen kennen gelernt hat. Es ist doch
ziemlich alles noch deutsch innerhalb der alten Ringmauern (selbst die Bier¬
cultur hat sich in neuerer Zeit bedeutend gehoben), und nur die hier und da
hervorblinkenden, grünen oder blauen Kuppeln rechtgläubiger Kirchen, auf den
Straßen die fremden Klänge barbarischer Sprachen, die Fülle russischer Unifor¬
men und nationaler Vauerntrachten mahnen an die Fremde. Mit einem Schlage
aber sieht man sich in russische Wirklichkeit versetzt, sobald man, die Wälle und
die mit friedlichen Promenaden bekränzten Glacis im Rücken lassend, die Vor¬
städte betritt. Besonders die während der französischen Invasion oder, wie es
im Curialstil heißt, "seit dem Einfalle der Gallier und der mit ihnen verbün¬
deten 26 Völkerschaften" niedergebrannten und neuerbauten Vorstädte gleichen
ganz ihrem Vorbilde, den Petersburger Linien, an Breite, Geradheit und leich¬
ter Bauart und, einige Fabriken und Villen reicher Kaufleute ausgenommen,
herrscht hier überall der Moskowiter, die alte deutsche Festung in weitem Bogen
einschließend und gierig aus die Zeit lauernd, wo ihm der verhaßte Njemetz
gleiche Rechte in der Kapitulation einräumen muß. Um seinen concentrischen
Ring lagert aber endlich das weite Gebiet der, gegen Russen- und Deutschthum
gleich indifferenten Letten und Esther, in welchem gleich Oasen die wenigen
kleinen Städte und die Edelhofe und Pastorale der Deutschen zerstreut liegen.
Diese wollen wir heute aufsuchen, um ihre Eigenthümlichkeiten kennen zu ler¬
nen und ihre Bewohner zu überraschen.

Wir mögen ausfahren von Riga oder Reval, nach welcher Himmelsgegend
wir wollen, die Wege aufs Land sind überall schlecht; selbst die großen Heer¬
straßen von Riga über Dorpat nach Narwa und von Reval ebendahin unter¬
scheiden sich beinahe nur durch ihre größere Breite von den Vicinalwegen.
Der Grund davon liegt wol mit in dem Mangel an gutem Material, größten-
theils aber in dem Uebelstande, daß der Adel für die Unterhaltung der Land¬
straßen und Poststationen zu sorgen hat, wofür ihm auch gestattet ist, billiger
zu reisen, als jeder andere. Nun sind noch außerdem die Wegestrecken zur
Ausbesserung nicht an die zunächst liegenden Güter, sondern, damit niemand
zu kurz komme, auch mit an die entferntesten repartirt, so daß die armen Frohn-


liebe Bequemlichkeit berechnet, als auf äußere Eleganz und gemessene Ueberein¬
stimmung. Denselben anheimelnden äußern Eindruck macht auch das alte Reval. Es
hat die mittelalterliche Romantik der Bauart mit der livländischen Schwesterstadt
gemein, übertrifft die letztere aber noch durch seine wunderschöne Lage am finni¬
schen Golfe, so wie dadurch, daß es an seinem Domberge, wenn auch keine
schützende Citadelle (wie die Zeitungsschreiber während deS orientalisch-russischen
Krieges immer behaupteten), so doch einen Mittel - und Stützpunkt sür das
Auge des Beschauers besitzt. Auch unter den Bewohnern der beiden Städte
sühlt man sich bald heimisch, wenn man ihr freundliches Entgegenkommen und
ihr reges Interesse an deutschen Zuständen kennen gelernt hat. Es ist doch
ziemlich alles noch deutsch innerhalb der alten Ringmauern (selbst die Bier¬
cultur hat sich in neuerer Zeit bedeutend gehoben), und nur die hier und da
hervorblinkenden, grünen oder blauen Kuppeln rechtgläubiger Kirchen, auf den
Straßen die fremden Klänge barbarischer Sprachen, die Fülle russischer Unifor¬
men und nationaler Vauerntrachten mahnen an die Fremde. Mit einem Schlage
aber sieht man sich in russische Wirklichkeit versetzt, sobald man, die Wälle und
die mit friedlichen Promenaden bekränzten Glacis im Rücken lassend, die Vor¬
städte betritt. Besonders die während der französischen Invasion oder, wie es
im Curialstil heißt, „seit dem Einfalle der Gallier und der mit ihnen verbün¬
deten 26 Völkerschaften" niedergebrannten und neuerbauten Vorstädte gleichen
ganz ihrem Vorbilde, den Petersburger Linien, an Breite, Geradheit und leich¬
ter Bauart und, einige Fabriken und Villen reicher Kaufleute ausgenommen,
herrscht hier überall der Moskowiter, die alte deutsche Festung in weitem Bogen
einschließend und gierig aus die Zeit lauernd, wo ihm der verhaßte Njemetz
gleiche Rechte in der Kapitulation einräumen muß. Um seinen concentrischen
Ring lagert aber endlich das weite Gebiet der, gegen Russen- und Deutschthum
gleich indifferenten Letten und Esther, in welchem gleich Oasen die wenigen
kleinen Städte und die Edelhofe und Pastorale der Deutschen zerstreut liegen.
Diese wollen wir heute aufsuchen, um ihre Eigenthümlichkeiten kennen zu ler¬
nen und ihre Bewohner zu überraschen.

Wir mögen ausfahren von Riga oder Reval, nach welcher Himmelsgegend
wir wollen, die Wege aufs Land sind überall schlecht; selbst die großen Heer¬
straßen von Riga über Dorpat nach Narwa und von Reval ebendahin unter¬
scheiden sich beinahe nur durch ihre größere Breite von den Vicinalwegen.
Der Grund davon liegt wol mit in dem Mangel an gutem Material, größten-
theils aber in dem Uebelstande, daß der Adel für die Unterhaltung der Land¬
straßen und Poststationen zu sorgen hat, wofür ihm auch gestattet ist, billiger
zu reisen, als jeder andere. Nun sind noch außerdem die Wegestrecken zur
Ausbesserung nicht an die zunächst liegenden Güter, sondern, damit niemand
zu kurz komme, auch mit an die entferntesten repartirt, so daß die armen Frohn-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0312" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104513"/>
          <p xml:id="ID_830" prev="#ID_829"> liebe Bequemlichkeit berechnet, als auf äußere Eleganz und gemessene Ueberein¬<lb/>
stimmung. Denselben anheimelnden äußern Eindruck macht auch das alte Reval. Es<lb/>
hat die mittelalterliche Romantik der Bauart mit der livländischen Schwesterstadt<lb/>
gemein, übertrifft die letztere aber noch durch seine wunderschöne Lage am finni¬<lb/>
schen Golfe, so wie dadurch, daß es an seinem Domberge, wenn auch keine<lb/>
schützende Citadelle (wie die Zeitungsschreiber während deS orientalisch-russischen<lb/>
Krieges immer behaupteten), so doch einen Mittel - und Stützpunkt sür das<lb/>
Auge des Beschauers besitzt. Auch unter den Bewohnern der beiden Städte<lb/>
sühlt man sich bald heimisch, wenn man ihr freundliches Entgegenkommen und<lb/>
ihr reges Interesse an deutschen Zuständen kennen gelernt hat. Es ist doch<lb/>
ziemlich alles noch deutsch innerhalb der alten Ringmauern (selbst die Bier¬<lb/>
cultur hat sich in neuerer Zeit bedeutend gehoben), und nur die hier und da<lb/>
hervorblinkenden, grünen oder blauen Kuppeln rechtgläubiger Kirchen, auf den<lb/>
Straßen die fremden Klänge barbarischer Sprachen, die Fülle russischer Unifor¬<lb/>
men und nationaler Vauerntrachten mahnen an die Fremde. Mit einem Schlage<lb/>
aber sieht man sich in russische Wirklichkeit versetzt, sobald man, die Wälle und<lb/>
die mit friedlichen Promenaden bekränzten Glacis im Rücken lassend, die Vor¬<lb/>
städte betritt. Besonders die während der französischen Invasion oder, wie es<lb/>
im Curialstil heißt, &#x201E;seit dem Einfalle der Gallier und der mit ihnen verbün¬<lb/>
deten 26 Völkerschaften" niedergebrannten und neuerbauten Vorstädte gleichen<lb/>
ganz ihrem Vorbilde, den Petersburger Linien, an Breite, Geradheit und leich¬<lb/>
ter Bauart und, einige Fabriken und Villen reicher Kaufleute ausgenommen,<lb/>
herrscht hier überall der Moskowiter, die alte deutsche Festung in weitem Bogen<lb/>
einschließend und gierig aus die Zeit lauernd, wo ihm der verhaßte Njemetz<lb/>
gleiche Rechte in der Kapitulation einräumen muß. Um seinen concentrischen<lb/>
Ring lagert aber endlich das weite Gebiet der, gegen Russen- und Deutschthum<lb/>
gleich indifferenten Letten und Esther, in welchem gleich Oasen die wenigen<lb/>
kleinen Städte und die Edelhofe und Pastorale der Deutschen zerstreut liegen.<lb/>
Diese wollen wir heute aufsuchen, um ihre Eigenthümlichkeiten kennen zu ler¬<lb/>
nen und ihre Bewohner zu überraschen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_831" next="#ID_832"> Wir mögen ausfahren von Riga oder Reval, nach welcher Himmelsgegend<lb/>
wir wollen, die Wege aufs Land sind überall schlecht; selbst die großen Heer¬<lb/>
straßen von Riga über Dorpat nach Narwa und von Reval ebendahin unter¬<lb/>
scheiden sich beinahe nur durch ihre größere Breite von den Vicinalwegen.<lb/>
Der Grund davon liegt wol mit in dem Mangel an gutem Material, größten-<lb/>
theils aber in dem Uebelstande, daß der Adel für die Unterhaltung der Land¬<lb/>
straßen und Poststationen zu sorgen hat, wofür ihm auch gestattet ist, billiger<lb/>
zu reisen, als jeder andere. Nun sind noch außerdem die Wegestrecken zur<lb/>
Ausbesserung nicht an die zunächst liegenden Güter, sondern, damit niemand<lb/>
zu kurz komme, auch mit an die entferntesten repartirt, so daß die armen Frohn-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0312] liebe Bequemlichkeit berechnet, als auf äußere Eleganz und gemessene Ueberein¬ stimmung. Denselben anheimelnden äußern Eindruck macht auch das alte Reval. Es hat die mittelalterliche Romantik der Bauart mit der livländischen Schwesterstadt gemein, übertrifft die letztere aber noch durch seine wunderschöne Lage am finni¬ schen Golfe, so wie dadurch, daß es an seinem Domberge, wenn auch keine schützende Citadelle (wie die Zeitungsschreiber während deS orientalisch-russischen Krieges immer behaupteten), so doch einen Mittel - und Stützpunkt sür das Auge des Beschauers besitzt. Auch unter den Bewohnern der beiden Städte sühlt man sich bald heimisch, wenn man ihr freundliches Entgegenkommen und ihr reges Interesse an deutschen Zuständen kennen gelernt hat. Es ist doch ziemlich alles noch deutsch innerhalb der alten Ringmauern (selbst die Bier¬ cultur hat sich in neuerer Zeit bedeutend gehoben), und nur die hier und da hervorblinkenden, grünen oder blauen Kuppeln rechtgläubiger Kirchen, auf den Straßen die fremden Klänge barbarischer Sprachen, die Fülle russischer Unifor¬ men und nationaler Vauerntrachten mahnen an die Fremde. Mit einem Schlage aber sieht man sich in russische Wirklichkeit versetzt, sobald man, die Wälle und die mit friedlichen Promenaden bekränzten Glacis im Rücken lassend, die Vor¬ städte betritt. Besonders die während der französischen Invasion oder, wie es im Curialstil heißt, „seit dem Einfalle der Gallier und der mit ihnen verbün¬ deten 26 Völkerschaften" niedergebrannten und neuerbauten Vorstädte gleichen ganz ihrem Vorbilde, den Petersburger Linien, an Breite, Geradheit und leich¬ ter Bauart und, einige Fabriken und Villen reicher Kaufleute ausgenommen, herrscht hier überall der Moskowiter, die alte deutsche Festung in weitem Bogen einschließend und gierig aus die Zeit lauernd, wo ihm der verhaßte Njemetz gleiche Rechte in der Kapitulation einräumen muß. Um seinen concentrischen Ring lagert aber endlich das weite Gebiet der, gegen Russen- und Deutschthum gleich indifferenten Letten und Esther, in welchem gleich Oasen die wenigen kleinen Städte und die Edelhofe und Pastorale der Deutschen zerstreut liegen. Diese wollen wir heute aufsuchen, um ihre Eigenthümlichkeiten kennen zu ler¬ nen und ihre Bewohner zu überraschen. Wir mögen ausfahren von Riga oder Reval, nach welcher Himmelsgegend wir wollen, die Wege aufs Land sind überall schlecht; selbst die großen Heer¬ straßen von Riga über Dorpat nach Narwa und von Reval ebendahin unter¬ scheiden sich beinahe nur durch ihre größere Breite von den Vicinalwegen. Der Grund davon liegt wol mit in dem Mangel an gutem Material, größten- theils aber in dem Uebelstande, daß der Adel für die Unterhaltung der Land¬ straßen und Poststationen zu sorgen hat, wofür ihm auch gestattet ist, billiger zu reisen, als jeder andere. Nun sind noch außerdem die Wegestrecken zur Ausbesserung nicht an die zunächst liegenden Güter, sondern, damit niemand zu kurz komme, auch mit an die entferntesten repartirt, so daß die armen Frohn-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/312
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/312>, abgerufen am 05.12.2024.