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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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ton :c.), so hatte er doch aus der Philosophie kein systematisches Studium
gemacht. Er kannte die herrschende Philosophie Condillacs und hatte sich aus
ihr jene Klarheit der Sprache und jene Schärfe der Beweisführung angeeignet,
die ihn auch später nicht verließ, aber sie ließ seinen moralischen Sinn un¬
befriedigt, der in den öffentlichen Verhältnissen nach einer festgefügten Ordnung
und daher in den Ideen nach einer unumstößlichen Autorität verlangte. Maine
de Biran suchte in der Philosophie lediglich einen Halt für sein eignes un¬
sicheres Denken und Empfinden; Royer-Collard betrachtete sie als Gesetzgeber
und verlangte von ihr Grundsätze für die Herstellung eines öffentlichen Rechts.
Der Sensualismus, der alle geistigen Regungen aus den sinnlichen Eindrücken
herleitete, schien ihm durch seine Beziehungsbegriffe die Integrität des Cha¬
rakters zu untergraben. Die Philosophie, die er suchte, mußte eine wissen¬
schaftliche Widerlegung des Sensualismus enthalten. Der Zufall spielte ihm
eine kleine Schrift des Dr. Neid in die Hände: lZss"^ on lluwan unäer-
stanäinx; in ihr fand er, was er suchte. Es muß gleich hier hinzugesetzt
werden, in Bezug auf die Geschichte der Philosophie blieb Royer-Collard auch
in seinem spätern Alter von einer unglaublichen Unwissenheit und stand darin
mit den Sensualisten, die er bekämpfte, auf einer Stufe. Wo er ältere
Schriftsteller citirt, nimmt er die Stellen entweder aus Neid oder aus Con-
dillac, und verfällt zuweilen in die seltsamsten Mißverständnisse. Er sah den
Versuchen seines Schülers Cousin mit geheimem Mißtrauen zu und sprach
sich in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie höchst gering¬
schätzig aus. I.'Kistoiie ac 1s, rMwsoptüö e8t-eUe une vtuiZe sterile? Mu,
Mo88leurs, it n'en est, point ne plus wslruLtive et ne plU8 utile, car on
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cle 1cur8 Steines. Er saßte seine Aufgabe durchaus praktisch. Es kam ihm
darauf an, die Philosophie deutlich und anwendbar zu machen und die Po¬
litik Grundsätzen zu unterwerfen, die Willkür und die Verwegenheit des Den¬
kens in Zucht zu nehmen, die bunte Welt der Thatsachen in Reihe und Glied
zu stellen, eine Philosophie zu finden, die den Bedürfnissen der Generation
von 1789 entspreche und aus einer gewissenhaften Untersuchung der mensch¬
lichen Natur hergeleitet sei. Auch sein schottischer Lehrer war von praktischen
Motiven bestimmt worden; der Sensualismus hatte sein Gewissen und na¬
mentlich sein Familiengefühl verletzt, und das Bedürfniß des Herzens hatte
seine Studien geleitet. Was Royer-Collard an Condillac gefesselt hatte, fand
er auch hier vor: die Methode der Beobachtung und Analyse, aber die neue
Lehre imponirte ihm durch ihre Uebereinstimmung mit dem gesunden Menschen¬
verstand. Der bon 8sri8 war die Waffe gewesen, mit der die Aufklärung des
48. Jahrhunderts das Gefühl bis zur äußersten Paradorie bekämpfte; durch


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ton :c.), so hatte er doch aus der Philosophie kein systematisches Studium
gemacht. Er kannte die herrschende Philosophie Condillacs und hatte sich aus
ihr jene Klarheit der Sprache und jene Schärfe der Beweisführung angeeignet,
die ihn auch später nicht verließ, aber sie ließ seinen moralischen Sinn un¬
befriedigt, der in den öffentlichen Verhältnissen nach einer festgefügten Ordnung
und daher in den Ideen nach einer unumstößlichen Autorität verlangte. Maine
de Biran suchte in der Philosophie lediglich einen Halt für sein eignes un¬
sicheres Denken und Empfinden; Royer-Collard betrachtete sie als Gesetzgeber
und verlangte von ihr Grundsätze für die Herstellung eines öffentlichen Rechts.
Der Sensualismus, der alle geistigen Regungen aus den sinnlichen Eindrücken
herleitete, schien ihm durch seine Beziehungsbegriffe die Integrität des Cha¬
rakters zu untergraben. Die Philosophie, die er suchte, mußte eine wissen¬
schaftliche Widerlegung des Sensualismus enthalten. Der Zufall spielte ihm
eine kleine Schrift des Dr. Neid in die Hände: lZss»^ on lluwan unäer-
stanäinx; in ihr fand er, was er suchte. Es muß gleich hier hinzugesetzt
werden, in Bezug auf die Geschichte der Philosophie blieb Royer-Collard auch
in seinem spätern Alter von einer unglaublichen Unwissenheit und stand darin
mit den Sensualisten, die er bekämpfte, auf einer Stufe. Wo er ältere
Schriftsteller citirt, nimmt er die Stellen entweder aus Neid oder aus Con-
dillac, und verfällt zuweilen in die seltsamsten Mißverständnisse. Er sah den
Versuchen seines Schülers Cousin mit geheimem Mißtrauen zu und sprach
sich in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie höchst gering¬
schätzig aus. I.'Kistoiie ac 1s, rMwsoptüö e8t-eUe une vtuiZe sterile? Mu,
Mo88leurs, it n'en est, point ne plus wslruLtive et ne plU8 utile, car on
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darauf an, die Philosophie deutlich und anwendbar zu machen und die Po¬
litik Grundsätzen zu unterwerfen, die Willkür und die Verwegenheit des Den¬
kens in Zucht zu nehmen, die bunte Welt der Thatsachen in Reihe und Glied
zu stellen, eine Philosophie zu finden, die den Bedürfnissen der Generation
von 1789 entspreche und aus einer gewissenhaften Untersuchung der mensch¬
lichen Natur hergeleitet sei. Auch sein schottischer Lehrer war von praktischen
Motiven bestimmt worden; der Sensualismus hatte sein Gewissen und na¬
mentlich sein Familiengefühl verletzt, und das Bedürfniß des Herzens hatte
seine Studien geleitet. Was Royer-Collard an Condillac gefesselt hatte, fand
er auch hier vor: die Methode der Beobachtung und Analyse, aber die neue
Lehre imponirte ihm durch ihre Uebereinstimmung mit dem gesunden Menschen¬
verstand. Der bon 8sri8 war die Waffe gewesen, mit der die Aufklärung des
48. Jahrhunderts das Gefühl bis zur äußersten Paradorie bekämpfte; durch


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[0307] ton :c.), so hatte er doch aus der Philosophie kein systematisches Studium gemacht. Er kannte die herrschende Philosophie Condillacs und hatte sich aus ihr jene Klarheit der Sprache und jene Schärfe der Beweisführung angeeignet, die ihn auch später nicht verließ, aber sie ließ seinen moralischen Sinn un¬ befriedigt, der in den öffentlichen Verhältnissen nach einer festgefügten Ordnung und daher in den Ideen nach einer unumstößlichen Autorität verlangte. Maine de Biran suchte in der Philosophie lediglich einen Halt für sein eignes un¬ sicheres Denken und Empfinden; Royer-Collard betrachtete sie als Gesetzgeber und verlangte von ihr Grundsätze für die Herstellung eines öffentlichen Rechts. Der Sensualismus, der alle geistigen Regungen aus den sinnlichen Eindrücken herleitete, schien ihm durch seine Beziehungsbegriffe die Integrität des Cha¬ rakters zu untergraben. Die Philosophie, die er suchte, mußte eine wissen¬ schaftliche Widerlegung des Sensualismus enthalten. Der Zufall spielte ihm eine kleine Schrift des Dr. Neid in die Hände: lZss»^ on lluwan unäer- stanäinx; in ihr fand er, was er suchte. Es muß gleich hier hinzugesetzt werden, in Bezug auf die Geschichte der Philosophie blieb Royer-Collard auch in seinem spätern Alter von einer unglaublichen Unwissenheit und stand darin mit den Sensualisten, die er bekämpfte, auf einer Stufe. Wo er ältere Schriftsteller citirt, nimmt er die Stellen entweder aus Neid oder aus Con- dillac, und verfällt zuweilen in die seltsamsten Mißverständnisse. Er sah den Versuchen seines Schülers Cousin mit geheimem Mißtrauen zu und sprach sich in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie höchst gering¬ schätzig aus. I.'Kistoiie ac 1s, rMwsoptüö e8t-eUe une vtuiZe sterile? Mu, Mo88leurs, it n'en est, point ne plus wslruLtive et ne plU8 utile, car on Kpprenä K 8S cle8g,bu8<zr <Ze8 Milo8opdk8 et vn ^ öesapprenä 1a lau88e 8eieuLe cle 1cur8 Steines. Er saßte seine Aufgabe durchaus praktisch. Es kam ihm darauf an, die Philosophie deutlich und anwendbar zu machen und die Po¬ litik Grundsätzen zu unterwerfen, die Willkür und die Verwegenheit des Den¬ kens in Zucht zu nehmen, die bunte Welt der Thatsachen in Reihe und Glied zu stellen, eine Philosophie zu finden, die den Bedürfnissen der Generation von 1789 entspreche und aus einer gewissenhaften Untersuchung der mensch¬ lichen Natur hergeleitet sei. Auch sein schottischer Lehrer war von praktischen Motiven bestimmt worden; der Sensualismus hatte sein Gewissen und na¬ mentlich sein Familiengefühl verletzt, und das Bedürfniß des Herzens hatte seine Studien geleitet. Was Royer-Collard an Condillac gefesselt hatte, fand er auch hier vor: die Methode der Beobachtung und Analyse, aber die neue Lehre imponirte ihm durch ihre Uebereinstimmung mit dem gesunden Menschen¬ verstand. Der bon 8sri8 war die Waffe gewesen, mit der die Aufklärung des 48. Jahrhunderts das Gefühl bis zur äußersten Paradorie bekämpfte; durch 38*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/307>, abgerufen am 24.08.2024.