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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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einer gesunden Vermittlung suchte. Das in unserer Zeit weitverbreitete Vor-
urtheil, im Streben nach Maß und Vermittlung ein Zeichen der Schwäche zu
sehen und die wahre Kraft nur in den Ertremen gelten zu lassen, wird durch
das Beispiel dieseK Mannes schlagend widerlegt, der, abgesehen von seinen
andern Verdiensten, ein Charakter im vollsten Sinne des Worts war, ernst,
streng, unbeugsam, ja nicht ohne Härte. Um seine Philosophie zu verstehen,
muß man den innern Kern seines Charakters untersuchen.

Royer-Collard war Juni -1763 in der Champagne geboren. Sein
zweiter Name bezeichnet die Familie seiner Mutter, welche durch eine Reihe
von Generationen der jansenistischen Schule angehört und durch ihr strenges
und heiliges Leben in dieser ernsten Gemeinschaft Ansehn gewonnen hatte.
Der Vater war ein schlichter Landmann, der Mutter blieb die Sorge für die
Erziehung der Kinder überlassen. Royer-Collard hat später den theologi¬
schen Lieblingssatz der Schule von der ausschließlichen Rechtfertigung durch
die Gnade mit Entschiedenheit verworfen, weil ihm der Begriff der Gerechtig¬
keit über alles ging und die Willkür als ein Widerspruch gegen die Idee des
höchsten Wesens erschien, aber seine Gesinnung nahm die Farbe seiner Schule
an: Ernst auch in den gleichgiltigsten Dingen des Lebens, Strenge gegen sich
und gegen die andern, ein tiefes Pflichtgefühl, Neigung zur schroffen Oppo¬
sition und daneben jenes sarkastische Talent, das auch Pascal charakterisiert.
Die Mutter ließ ihn in der Schule der Oratorier erziehen (perss Ah Ice äao-
trillv Ldr"t,iLnn<z), zuerst zu Chaumont, dann zu Se. Omer. Die letztere An¬
stalt stand unter der Leitung eines Oheims, der ihn zwang, nach einer strengen
Methode seine Studien von vorn anzufangen, und ihn an Gewissenhaftigkeit
im Denken und Arbeiten gewöhnte. Von jener Erziehungsanstalt schreibt sich bei¬
läufig das spätere Stichwort der Doctrinärs her, gegen welches Royer-Collard
stets protestirt hat. In Se. Omer übernahm er in der Absicht, in den Orden
zu treten, für einige Zeit die Stelle eines Lehrers der Mathematik, dann aber
wandte er sich der juristischen Laufbahn zu und wurde kurz vor Ausbruch der
Revolution Advocat am Parlament zu Paris. Mit Enthusiasmus gab er sich
der politischen Bewegung hin, von der er die Herstellung eines öffentlichen
Rechtszustandes hoffte, und gelangte als tüchtiger Volksredner nach Erstürmung
der Bastille in den Gemeinderath, wo er als Secretär und im Verein mit
seinem Freunde Bailly die Anarchie möglichst zu dämpfen suchte. Schon nach
der Flucht des Königs schied Royer-Collard aus dem Gemeinderath. Doch
fuhr er noch fort, innerhalb der Sektionen gegen die Unruhestifter zu wirken,
die ihn infolge dessen beim Beginn der Schreckenszeit achteten. Er floh auf
das Gut seiner Mutter, wo seine Familie so viel Achtung genoß, daß sich kein
Verräther fand. Die Schreckenszeit ging vorüber, und der junge Royer-Collard
wurde aus seiner Zurückgezogenheit abgeholt, (Mai 1797), um in den Rath


Grenzboten III. ->8ö7. 38

einer gesunden Vermittlung suchte. Das in unserer Zeit weitverbreitete Vor-
urtheil, im Streben nach Maß und Vermittlung ein Zeichen der Schwäche zu
sehen und die wahre Kraft nur in den Ertremen gelten zu lassen, wird durch
das Beispiel dieseK Mannes schlagend widerlegt, der, abgesehen von seinen
andern Verdiensten, ein Charakter im vollsten Sinne des Worts war, ernst,
streng, unbeugsam, ja nicht ohne Härte. Um seine Philosophie zu verstehen,
muß man den innern Kern seines Charakters untersuchen.

Royer-Collard war Juni -1763 in der Champagne geboren. Sein
zweiter Name bezeichnet die Familie seiner Mutter, welche durch eine Reihe
von Generationen der jansenistischen Schule angehört und durch ihr strenges
und heiliges Leben in dieser ernsten Gemeinschaft Ansehn gewonnen hatte.
Der Vater war ein schlichter Landmann, der Mutter blieb die Sorge für die
Erziehung der Kinder überlassen. Royer-Collard hat später den theologi¬
schen Lieblingssatz der Schule von der ausschließlichen Rechtfertigung durch
die Gnade mit Entschiedenheit verworfen, weil ihm der Begriff der Gerechtig¬
keit über alles ging und die Willkür als ein Widerspruch gegen die Idee des
höchsten Wesens erschien, aber seine Gesinnung nahm die Farbe seiner Schule
an: Ernst auch in den gleichgiltigsten Dingen des Lebens, Strenge gegen sich
und gegen die andern, ein tiefes Pflichtgefühl, Neigung zur schroffen Oppo¬
sition und daneben jenes sarkastische Talent, das auch Pascal charakterisiert.
Die Mutter ließ ihn in der Schule der Oratorier erziehen (perss Ah Ice äao-
trillv Ldr«t,iLnn<z), zuerst zu Chaumont, dann zu Se. Omer. Die letztere An¬
stalt stand unter der Leitung eines Oheims, der ihn zwang, nach einer strengen
Methode seine Studien von vorn anzufangen, und ihn an Gewissenhaftigkeit
im Denken und Arbeiten gewöhnte. Von jener Erziehungsanstalt schreibt sich bei¬
läufig das spätere Stichwort der Doctrinärs her, gegen welches Royer-Collard
stets protestirt hat. In Se. Omer übernahm er in der Absicht, in den Orden
zu treten, für einige Zeit die Stelle eines Lehrers der Mathematik, dann aber
wandte er sich der juristischen Laufbahn zu und wurde kurz vor Ausbruch der
Revolution Advocat am Parlament zu Paris. Mit Enthusiasmus gab er sich
der politischen Bewegung hin, von der er die Herstellung eines öffentlichen
Rechtszustandes hoffte, und gelangte als tüchtiger Volksredner nach Erstürmung
der Bastille in den Gemeinderath, wo er als Secretär und im Verein mit
seinem Freunde Bailly die Anarchie möglichst zu dämpfen suchte. Schon nach
der Flucht des Königs schied Royer-Collard aus dem Gemeinderath. Doch
fuhr er noch fort, innerhalb der Sektionen gegen die Unruhestifter zu wirken,
die ihn infolge dessen beim Beginn der Schreckenszeit achteten. Er floh auf
das Gut seiner Mutter, wo seine Familie so viel Achtung genoß, daß sich kein
Verräther fand. Die Schreckenszeit ging vorüber, und der junge Royer-Collard
wurde aus seiner Zurückgezogenheit abgeholt, (Mai 1797), um in den Rath


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/305>, abgerufen am 05.12.2024.