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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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indem also mit immer weniger Kosten, mit einem immer geringeren Verbrauch
menschlicher Kräfte, immer größere und vollkommnere Gütermengen hergestellt
werden, die Menschheit immer reichlicher mit allem versorgt wird, wird ein
immer größerer Ueberschuß von Kräften, der vorher bei jener Production
gewißermaßen gebunden war, frei, und kann sich auf rein geistigem Gebiete
beschäftigen. So gewinnt der gewerbliche Fortschritt für uns eine doppelte
Bedeutung. Einmal verschafft er uns die Nothdurft und die Annehmlichkeiten
des Lebens reichlicher und billiger, und macht sie immer größeren Consumen-
tenkreisen zugänglich; sodann ist er die Bedingung, an welche die Betheiligung am
höhern Culturleben der Menschheit für den Einzelnen wie für ganze Völker
geknüpft ist. So stehen beide, das materielle und geistige Element, in reger
Wechselwirkung. Wie Wissenschaft und Kunst der materiellen Basis nicht
entbehren können, so spenden sie dagegen denselben wiederum freigebig, als
ihrer Ernährerin, ihre reichsten Schätze. Diesem so tiefsinnig verknüpften na¬
türlichen Lause der Dinge entgegentreten, heißt der Menschheit ihr schönstes
Eigenthum, die mühsamen Errungenschaften von Jahrhunderten streitig machen.
Und bilde sich doch niemand ein, eines dieser gewaltigen, ineinandergreifenden
Triebräder hemmen zu wollen, ohne zugleich daS andere zum Stehen zu bringen.
Die Vervollkommnung der industriellen Production verbieten, hat zugleich den
Stillstand im geistigen Lebensgebiet zur Folge und umgekehrt. Indem man
dem Menschen wehrt, die gewonnene Erkenntniß praktisch anzuwenden, indem
man seine mühsamen Forschungen verdammt, resultatlos zu bleiben, nimmt
man ihm einen Hauptsporn zu solchen Forschungen, zur Ausbreitung seiner
Erkenntniß. Ein so herbeigeführter Stillstand in dem allgemeinen Entwicklungs-
prvcesse aber ist so gut wie Rückschritt, mit seinem unausbleiblichen Gefolge
der Verkommenheit aller Zustände des öffentlichen wie Privatlebens. Und
daß dies auf alle Classen der Gesellschaft ohne Ausnahme verderblich zurück¬
wirken muß, steht unabwendbar fest. Man sehe nur einmal die Zustände in
Spanien und Portugal, in Rom, Neapel, der Türkei u. a. Ueberall mit den
Eingriffen in die eine Seite freier menschlicher Regsamkeit zugleich die andere ge¬
hemmt; überall neben der niedrigsten Stufe der Industrie zugleich die nie¬
drigste Stufe der Bildung, bei allgemein gesunkenem Wohlstande tiefe Gesunken-
heit des sittlichen Gefühls. Statt des Fleißes und der Tüchtigkeit Trägheit und
Beschränktheit an der Tagesordnung; Bettelei, Raub und Elend überall. Und
was dabei insbesondere aus den Handwerkern selbst wird, dafür mögen ihnen
ihre wahrlich nicht beneidenswerthen Collegen der genannten "Länder als ab¬
schreckendes Beispiel dienen.

Somit wäre denn der Rückkehr zum Alten das Urtheil gesprochen.
Nicht in der Wiederaufnahme von Formen, welche längst überwundenen Zu¬
ständen angepaßt waren, liegt das gesuchte Heil. Wer in einer bestimmten


indem also mit immer weniger Kosten, mit einem immer geringeren Verbrauch
menschlicher Kräfte, immer größere und vollkommnere Gütermengen hergestellt
werden, die Menschheit immer reichlicher mit allem versorgt wird, wird ein
immer größerer Ueberschuß von Kräften, der vorher bei jener Production
gewißermaßen gebunden war, frei, und kann sich auf rein geistigem Gebiete
beschäftigen. So gewinnt der gewerbliche Fortschritt für uns eine doppelte
Bedeutung. Einmal verschafft er uns die Nothdurft und die Annehmlichkeiten
des Lebens reichlicher und billiger, und macht sie immer größeren Consumen-
tenkreisen zugänglich; sodann ist er die Bedingung, an welche die Betheiligung am
höhern Culturleben der Menschheit für den Einzelnen wie für ganze Völker
geknüpft ist. So stehen beide, das materielle und geistige Element, in reger
Wechselwirkung. Wie Wissenschaft und Kunst der materiellen Basis nicht
entbehren können, so spenden sie dagegen denselben wiederum freigebig, als
ihrer Ernährerin, ihre reichsten Schätze. Diesem so tiefsinnig verknüpften na¬
türlichen Lause der Dinge entgegentreten, heißt der Menschheit ihr schönstes
Eigenthum, die mühsamen Errungenschaften von Jahrhunderten streitig machen.
Und bilde sich doch niemand ein, eines dieser gewaltigen, ineinandergreifenden
Triebräder hemmen zu wollen, ohne zugleich daS andere zum Stehen zu bringen.
Die Vervollkommnung der industriellen Production verbieten, hat zugleich den
Stillstand im geistigen Lebensgebiet zur Folge und umgekehrt. Indem man
dem Menschen wehrt, die gewonnene Erkenntniß praktisch anzuwenden, indem
man seine mühsamen Forschungen verdammt, resultatlos zu bleiben, nimmt
man ihm einen Hauptsporn zu solchen Forschungen, zur Ausbreitung seiner
Erkenntniß. Ein so herbeigeführter Stillstand in dem allgemeinen Entwicklungs-
prvcesse aber ist so gut wie Rückschritt, mit seinem unausbleiblichen Gefolge
der Verkommenheit aller Zustände des öffentlichen wie Privatlebens. Und
daß dies auf alle Classen der Gesellschaft ohne Ausnahme verderblich zurück¬
wirken muß, steht unabwendbar fest. Man sehe nur einmal die Zustände in
Spanien und Portugal, in Rom, Neapel, der Türkei u. a. Ueberall mit den
Eingriffen in die eine Seite freier menschlicher Regsamkeit zugleich die andere ge¬
hemmt; überall neben der niedrigsten Stufe der Industrie zugleich die nie¬
drigste Stufe der Bildung, bei allgemein gesunkenem Wohlstande tiefe Gesunken-
heit des sittlichen Gefühls. Statt des Fleißes und der Tüchtigkeit Trägheit und
Beschränktheit an der Tagesordnung; Bettelei, Raub und Elend überall. Und
was dabei insbesondere aus den Handwerkern selbst wird, dafür mögen ihnen
ihre wahrlich nicht beneidenswerthen Collegen der genannten "Länder als ab¬
schreckendes Beispiel dienen.

Somit wäre denn der Rückkehr zum Alten das Urtheil gesprochen.
Nicht in der Wiederaufnahme von Formen, welche längst überwundenen Zu¬
ständen angepaßt waren, liegt das gesuchte Heil. Wer in einer bestimmten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/274>, abgerufen am 12.12.2024.