Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

es nicht an Gegensätzen; aber diese lagen im Unterschied der Zeit und der
leitende Gesichtspunkt wird dadurch nicht geändert.

Es war ein eitles Verlangen von den Borkämpfern der Kirche, die Au¬
torität durch Unterdrückung alles Denkens zu gewinnen. Aus den Söhnen
eines kritischen Zeitalters macht man niemals gläubige Kinder; um sie zu
überzeugen, muß man sich an ihren Verstand wenden, und die oberflächliche
Reflexion durch eine tiefere ersetzen. Wenn man die Religion durch Gründe
der äußeren Staatsraison herstellte, so war grade das der Triumph des Skep¬
ticismus, der nur für den ersten Augenblick des Schreckens ausreichen konnte.
Durch die Uebung eines halben Jahrhunderts waren die Franzosen an freies
Raisonnement gewöhnt, und dies war das einzige Mittel, sie zu anderen
Ueberzeugungen zu bringen. Freilich war die Hauptsache, dem Gefühl eine
andere Richtung zu geben; aber auch dies war nur durch Ideen möglich. So
drängte sich zwischen den Prediger und die Masse des Volkes überall der
Schatten der Philosophie.

Wie man auch die Philosophie des vorigen Jahrhunderts lästern mochte;
sie hatte doch im gesammten Volke einen Bodensatz zurückgelassen, den man
nicht umgehen konnte, den gesunden Menschenverstand. Wenn es nicht ge¬
lang diesen zu gewinnen, so war aller Kampf gegen die Revolution ein eitles
Unternehmen; dies war daher das Hauptaugenmerk der eklektischen Schule.
Sie suchte die einseitigen mathematischen und physikalischen Begriffe des vo¬
rigen Jahrhunderts durch moralische Ideen zu ersetzen, und das Gefühl zu
läutern und zu veredeln, indem sie zugleich den gesunden Menschenverstand be¬
friedigte. Wenn sie daher auf der einen Seite der Dichtung die Hand bot,
so suchte sie auf der andern die Geschichte an sich zu ziehen, welche die Auf¬
klärung ganz vernachlässigt hatte. Diese Vernachlässigung der Geschichte hatte
auch auf die politische Entwicklung den schädlichsten Einfluß ausgeübt, indem
man Systeme entwarf, die aus den sogenannten natürlichen Menschen mit
Hintansetzung aller historischen Unterschiede berechnet waren; hier konnte nun
die neue Schule mit dem Bewußtsein höherer Bildung auftreten und ihre
innige Beziehung zu den jungen Geschichtschreibern gab ihr zugleich einen
unberechenbaren Vorsprung vor der kirchlichen Partei. Wie man sich auch
bemühte, das Christenthum als eine Stütze des Bestehenden darzustellen, es
war augenscheinlich, daß unmittelbar aus ihm keine positive Politik hergeleitet
werden konnte. Das Evangelium verlangt von den Gläubigen, sie sollen sich
um die Angelegenheiten dieser Welt so wenig kümmern, als irgend möglich;
das ging vor der Revolution, so lange nur Interessen und Leidenschaften die
Politik bestimmten, es war aber nicht mehr durchzuführen, seitdem man das
öffentliche Leben nach Ideen umgestaltet hatte.

Wenn also die Philosophie des vorigen Jahrhunderts den doppelten Zweck


es nicht an Gegensätzen; aber diese lagen im Unterschied der Zeit und der
leitende Gesichtspunkt wird dadurch nicht geändert.

Es war ein eitles Verlangen von den Borkämpfern der Kirche, die Au¬
torität durch Unterdrückung alles Denkens zu gewinnen. Aus den Söhnen
eines kritischen Zeitalters macht man niemals gläubige Kinder; um sie zu
überzeugen, muß man sich an ihren Verstand wenden, und die oberflächliche
Reflexion durch eine tiefere ersetzen. Wenn man die Religion durch Gründe
der äußeren Staatsraison herstellte, so war grade das der Triumph des Skep¬
ticismus, der nur für den ersten Augenblick des Schreckens ausreichen konnte.
Durch die Uebung eines halben Jahrhunderts waren die Franzosen an freies
Raisonnement gewöhnt, und dies war das einzige Mittel, sie zu anderen
Ueberzeugungen zu bringen. Freilich war die Hauptsache, dem Gefühl eine
andere Richtung zu geben; aber auch dies war nur durch Ideen möglich. So
drängte sich zwischen den Prediger und die Masse des Volkes überall der
Schatten der Philosophie.

Wie man auch die Philosophie des vorigen Jahrhunderts lästern mochte;
sie hatte doch im gesammten Volke einen Bodensatz zurückgelassen, den man
nicht umgehen konnte, den gesunden Menschenverstand. Wenn es nicht ge¬
lang diesen zu gewinnen, so war aller Kampf gegen die Revolution ein eitles
Unternehmen; dies war daher das Hauptaugenmerk der eklektischen Schule.
Sie suchte die einseitigen mathematischen und physikalischen Begriffe des vo¬
rigen Jahrhunderts durch moralische Ideen zu ersetzen, und das Gefühl zu
läutern und zu veredeln, indem sie zugleich den gesunden Menschenverstand be¬
friedigte. Wenn sie daher auf der einen Seite der Dichtung die Hand bot,
so suchte sie auf der andern die Geschichte an sich zu ziehen, welche die Auf¬
klärung ganz vernachlässigt hatte. Diese Vernachlässigung der Geschichte hatte
auch auf die politische Entwicklung den schädlichsten Einfluß ausgeübt, indem
man Systeme entwarf, die aus den sogenannten natürlichen Menschen mit
Hintansetzung aller historischen Unterschiede berechnet waren; hier konnte nun
die neue Schule mit dem Bewußtsein höherer Bildung auftreten und ihre
innige Beziehung zu den jungen Geschichtschreibern gab ihr zugleich einen
unberechenbaren Vorsprung vor der kirchlichen Partei. Wie man sich auch
bemühte, das Christenthum als eine Stütze des Bestehenden darzustellen, es
war augenscheinlich, daß unmittelbar aus ihm keine positive Politik hergeleitet
werden konnte. Das Evangelium verlangt von den Gläubigen, sie sollen sich
um die Angelegenheiten dieser Welt so wenig kümmern, als irgend möglich;
das ging vor der Revolution, so lange nur Interessen und Leidenschaften die
Politik bestimmten, es war aber nicht mehr durchzuführen, seitdem man das
öffentliche Leben nach Ideen umgestaltet hatte.

Wenn also die Philosophie des vorigen Jahrhunderts den doppelten Zweck


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0253" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104454"/>
            <p xml:id="ID_683" prev="#ID_682"> es nicht an Gegensätzen; aber diese lagen im Unterschied der Zeit und der<lb/>
leitende Gesichtspunkt wird dadurch nicht geändert.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_684"> Es war ein eitles Verlangen von den Borkämpfern der Kirche, die Au¬<lb/>
torität durch Unterdrückung alles Denkens zu gewinnen. Aus den Söhnen<lb/>
eines kritischen Zeitalters macht man niemals gläubige Kinder; um sie zu<lb/>
überzeugen, muß man sich an ihren Verstand wenden, und die oberflächliche<lb/>
Reflexion durch eine tiefere ersetzen. Wenn man die Religion durch Gründe<lb/>
der äußeren Staatsraison herstellte, so war grade das der Triumph des Skep¬<lb/>
ticismus, der nur für den ersten Augenblick des Schreckens ausreichen konnte.<lb/>
Durch die Uebung eines halben Jahrhunderts waren die Franzosen an freies<lb/>
Raisonnement gewöhnt, und dies war das einzige Mittel, sie zu anderen<lb/>
Ueberzeugungen zu bringen. Freilich war die Hauptsache, dem Gefühl eine<lb/>
andere Richtung zu geben; aber auch dies war nur durch Ideen möglich. So<lb/>
drängte sich zwischen den Prediger und die Masse des Volkes überall der<lb/>
Schatten der Philosophie.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_685"> Wie man auch die Philosophie des vorigen Jahrhunderts lästern mochte;<lb/>
sie hatte doch im gesammten Volke einen Bodensatz zurückgelassen, den man<lb/>
nicht umgehen konnte, den gesunden Menschenverstand. Wenn es nicht ge¬<lb/>
lang diesen zu gewinnen, so war aller Kampf gegen die Revolution ein eitles<lb/>
Unternehmen; dies war daher das Hauptaugenmerk der eklektischen Schule.<lb/>
Sie suchte die einseitigen mathematischen und physikalischen Begriffe des vo¬<lb/>
rigen Jahrhunderts durch moralische Ideen zu ersetzen, und das Gefühl zu<lb/>
läutern und zu veredeln, indem sie zugleich den gesunden Menschenverstand be¬<lb/>
friedigte. Wenn sie daher auf der einen Seite der Dichtung die Hand bot,<lb/>
so suchte sie auf der andern die Geschichte an sich zu ziehen, welche die Auf¬<lb/>
klärung ganz vernachlässigt hatte. Diese Vernachlässigung der Geschichte hatte<lb/>
auch auf die politische Entwicklung den schädlichsten Einfluß ausgeübt, indem<lb/>
man Systeme entwarf, die aus den sogenannten natürlichen Menschen mit<lb/>
Hintansetzung aller historischen Unterschiede berechnet waren; hier konnte nun<lb/>
die neue Schule mit dem Bewußtsein höherer Bildung auftreten und ihre<lb/>
innige Beziehung zu den jungen Geschichtschreibern gab ihr zugleich einen<lb/>
unberechenbaren Vorsprung vor der kirchlichen Partei. Wie man sich auch<lb/>
bemühte, das Christenthum als eine Stütze des Bestehenden darzustellen, es<lb/>
war augenscheinlich, daß unmittelbar aus ihm keine positive Politik hergeleitet<lb/>
werden konnte. Das Evangelium verlangt von den Gläubigen, sie sollen sich<lb/>
um die Angelegenheiten dieser Welt so wenig kümmern, als irgend möglich;<lb/>
das ging vor der Revolution, so lange nur Interessen und Leidenschaften die<lb/>
Politik bestimmten, es war aber nicht mehr durchzuführen, seitdem man das<lb/>
öffentliche Leben nach Ideen umgestaltet hatte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_686" next="#ID_687"> Wenn also die Philosophie des vorigen Jahrhunderts den doppelten Zweck</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0253] es nicht an Gegensätzen; aber diese lagen im Unterschied der Zeit und der leitende Gesichtspunkt wird dadurch nicht geändert. Es war ein eitles Verlangen von den Borkämpfern der Kirche, die Au¬ torität durch Unterdrückung alles Denkens zu gewinnen. Aus den Söhnen eines kritischen Zeitalters macht man niemals gläubige Kinder; um sie zu überzeugen, muß man sich an ihren Verstand wenden, und die oberflächliche Reflexion durch eine tiefere ersetzen. Wenn man die Religion durch Gründe der äußeren Staatsraison herstellte, so war grade das der Triumph des Skep¬ ticismus, der nur für den ersten Augenblick des Schreckens ausreichen konnte. Durch die Uebung eines halben Jahrhunderts waren die Franzosen an freies Raisonnement gewöhnt, und dies war das einzige Mittel, sie zu anderen Ueberzeugungen zu bringen. Freilich war die Hauptsache, dem Gefühl eine andere Richtung zu geben; aber auch dies war nur durch Ideen möglich. So drängte sich zwischen den Prediger und die Masse des Volkes überall der Schatten der Philosophie. Wie man auch die Philosophie des vorigen Jahrhunderts lästern mochte; sie hatte doch im gesammten Volke einen Bodensatz zurückgelassen, den man nicht umgehen konnte, den gesunden Menschenverstand. Wenn es nicht ge¬ lang diesen zu gewinnen, so war aller Kampf gegen die Revolution ein eitles Unternehmen; dies war daher das Hauptaugenmerk der eklektischen Schule. Sie suchte die einseitigen mathematischen und physikalischen Begriffe des vo¬ rigen Jahrhunderts durch moralische Ideen zu ersetzen, und das Gefühl zu läutern und zu veredeln, indem sie zugleich den gesunden Menschenverstand be¬ friedigte. Wenn sie daher auf der einen Seite der Dichtung die Hand bot, so suchte sie auf der andern die Geschichte an sich zu ziehen, welche die Auf¬ klärung ganz vernachlässigt hatte. Diese Vernachlässigung der Geschichte hatte auch auf die politische Entwicklung den schädlichsten Einfluß ausgeübt, indem man Systeme entwarf, die aus den sogenannten natürlichen Menschen mit Hintansetzung aller historischen Unterschiede berechnet waren; hier konnte nun die neue Schule mit dem Bewußtsein höherer Bildung auftreten und ihre innige Beziehung zu den jungen Geschichtschreibern gab ihr zugleich einen unberechenbaren Vorsprung vor der kirchlichen Partei. Wie man sich auch bemühte, das Christenthum als eine Stütze des Bestehenden darzustellen, es war augenscheinlich, daß unmittelbar aus ihm keine positive Politik hergeleitet werden konnte. Das Evangelium verlangt von den Gläubigen, sie sollen sich um die Angelegenheiten dieser Welt so wenig kümmern, als irgend möglich; das ging vor der Revolution, so lange nur Interessen und Leidenschaften die Politik bestimmten, es war aber nicht mehr durchzuführen, seitdem man das öffentliche Leben nach Ideen umgestaltet hatte. Wenn also die Philosophie des vorigen Jahrhunderts den doppelten Zweck

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/253
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/253>, abgerufen am 12.12.2024.