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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Anblick viel weniger, als die der deutschen. An Kühnheit und Jdeenreichthum
lassen sich die Franzosen mit den Deutschen nicht im Entferntesten vergleichen,
und während die letztern wenigstens dem Anschein nach ihre Ideen fast aus¬
schließlich aus sich selbst schöpfen, lehnen sich die erster" mit gänzlicher Abhängigkeit
auf die Grundsähe, die ihnen ihre schottischen und deutschen Lehrmeister überlie¬
fert haben. Anders wird das Verhältniß, wenn man die praktische Einwirkung
der Philosophie auf die allgemeine Cultur erwägt. Mittelbar hat die, Methode
der deutschen Philosophie auf sämmtliche Wissenschaften, aus die Politik und
auf die Religio.n einen großen Einfluß ausgeübt, aber nur durch Anregungen,
nicht durch ein abschließendes Urtheil. In dem zahlreichen Publicum, welches
auf den Universitäten sich daran gewöhnte," die Formeln der Systeme nachzu¬
sprechen, waltete nicht blos ein erbitterter Krieg der einen Schule gegen dje
andere, ein Krieg, der jede völkerrechtliche Bestimmung aufhob, sondern die
Anhänger derselben Schule wichen in den wichtigsten Lebensfragen himmelweit
voneinander ab. Wenn die Kantianer noch eine ziemlich compacte Einheit
bildeten, so ging in der hegelschen Schule die äußerste Rechte mit der leiden¬
schaftlichen Reaction Hand in Hand, die äußerste Linke g,ab sich zu Führern
der Demagogie her. Da man sich aber nur eine kurze Zeit in den luftigen
Räumen der Metaphysik bewegen kann, da die praktischen Fragen, die Fragen
nach den Ideen Gott, Recht, Freiheit :c., das scholastische Spiel der bloßen
Kategorien bald in den Hintergrund drängen, so ist die natürliche Folge ge¬
wesen, daß man in der endlichen Erschöpfung das ganze Lehrgebäude der Spe¬
kulation fallen ließ. Die wenigen Reste der alten Philosophenschulen erschei¬
nen uns wie Trümmer einer untergegangenen Welt, die nicht einmal ein ro¬
mantisches Interesse mehr erregen.

Ganz anders bei den Franzosen. In der Analyse der Begriffe können
wir von ihnen wenig oder nichts lernen. Der französische Eklekticismus hat
keinen Satz ausgestellt, der nicht in einem von unsern Systemen schärfer for-
mulirt wäre; aber die Gesinnung, welche in dieser Philosophie gelehrt wurde,
die Stellung zu den wichtigsten Fragen der Menschheit, ist eine einheitliche
gewesen und sie hat die Grundlage deS Glaubens, des Denkens und Empfin¬
dens für den ganzen gebildeten Theil der Nation ausgemacht. Man läßt
sich zu sehr durch die Erscheinungen bestimmen, die man auf der Oberfläche
wahrnimmt. Freilich haben die Franzosen wieder eine Reihe resultatloser Re¬
volutionen durchgemacht, die sie sich sehr bequem hätten ersparen können; aber
der Inhalt des nationalen Bewußtseins, wie er sich in den gebildeten Schich¬
ten der Gesellschaft ausspricht, ist intact geblieben.

Die Ausgabe der Philosophie zu Anfang dieses Jahrhunderts war eine
doppelte. Es galt einmal, den Sensualismus der Aufklärung zu bekämpfen,
jenes System, welches die Welt als einen leeren Mechanismus der Zweckbe-


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Anblick viel weniger, als die der deutschen. An Kühnheit und Jdeenreichthum
lassen sich die Franzosen mit den Deutschen nicht im Entferntesten vergleichen,
und während die letztern wenigstens dem Anschein nach ihre Ideen fast aus¬
schließlich aus sich selbst schöpfen, lehnen sich die erster» mit gänzlicher Abhängigkeit
auf die Grundsähe, die ihnen ihre schottischen und deutschen Lehrmeister überlie¬
fert haben. Anders wird das Verhältniß, wenn man die praktische Einwirkung
der Philosophie auf die allgemeine Cultur erwägt. Mittelbar hat die, Methode
der deutschen Philosophie auf sämmtliche Wissenschaften, aus die Politik und
auf die Religio.n einen großen Einfluß ausgeübt, aber nur durch Anregungen,
nicht durch ein abschließendes Urtheil. In dem zahlreichen Publicum, welches
auf den Universitäten sich daran gewöhnte,» die Formeln der Systeme nachzu¬
sprechen, waltete nicht blos ein erbitterter Krieg der einen Schule gegen dje
andere, ein Krieg, der jede völkerrechtliche Bestimmung aufhob, sondern die
Anhänger derselben Schule wichen in den wichtigsten Lebensfragen himmelweit
voneinander ab. Wenn die Kantianer noch eine ziemlich compacte Einheit
bildeten, so ging in der hegelschen Schule die äußerste Rechte mit der leiden¬
schaftlichen Reaction Hand in Hand, die äußerste Linke g,ab sich zu Führern
der Demagogie her. Da man sich aber nur eine kurze Zeit in den luftigen
Räumen der Metaphysik bewegen kann, da die praktischen Fragen, die Fragen
nach den Ideen Gott, Recht, Freiheit :c., das scholastische Spiel der bloßen
Kategorien bald in den Hintergrund drängen, so ist die natürliche Folge ge¬
wesen, daß man in der endlichen Erschöpfung das ganze Lehrgebäude der Spe¬
kulation fallen ließ. Die wenigen Reste der alten Philosophenschulen erschei¬
nen uns wie Trümmer einer untergegangenen Welt, die nicht einmal ein ro¬
mantisches Interesse mehr erregen.

Ganz anders bei den Franzosen. In der Analyse der Begriffe können
wir von ihnen wenig oder nichts lernen. Der französische Eklekticismus hat
keinen Satz ausgestellt, der nicht in einem von unsern Systemen schärfer for-
mulirt wäre; aber die Gesinnung, welche in dieser Philosophie gelehrt wurde,
die Stellung zu den wichtigsten Fragen der Menschheit, ist eine einheitliche
gewesen und sie hat die Grundlage deS Glaubens, des Denkens und Empfin¬
dens für den ganzen gebildeten Theil der Nation ausgemacht. Man läßt
sich zu sehr durch die Erscheinungen bestimmen, die man auf der Oberfläche
wahrnimmt. Freilich haben die Franzosen wieder eine Reihe resultatloser Re¬
volutionen durchgemacht, die sie sich sehr bequem hätten ersparen können; aber
der Inhalt des nationalen Bewußtseins, wie er sich in den gebildeten Schich¬
ten der Gesellschaft ausspricht, ist intact geblieben.

Die Ausgabe der Philosophie zu Anfang dieses Jahrhunderts war eine
doppelte. Es galt einmal, den Sensualismus der Aufklärung zu bekämpfen,
jenes System, welches die Welt als einen leeren Mechanismus der Zweckbe-


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[0251] Anblick viel weniger, als die der deutschen. An Kühnheit und Jdeenreichthum lassen sich die Franzosen mit den Deutschen nicht im Entferntesten vergleichen, und während die letztern wenigstens dem Anschein nach ihre Ideen fast aus¬ schließlich aus sich selbst schöpfen, lehnen sich die erster» mit gänzlicher Abhängigkeit auf die Grundsähe, die ihnen ihre schottischen und deutschen Lehrmeister überlie¬ fert haben. Anders wird das Verhältniß, wenn man die praktische Einwirkung der Philosophie auf die allgemeine Cultur erwägt. Mittelbar hat die, Methode der deutschen Philosophie auf sämmtliche Wissenschaften, aus die Politik und auf die Religio.n einen großen Einfluß ausgeübt, aber nur durch Anregungen, nicht durch ein abschließendes Urtheil. In dem zahlreichen Publicum, welches auf den Universitäten sich daran gewöhnte,» die Formeln der Systeme nachzu¬ sprechen, waltete nicht blos ein erbitterter Krieg der einen Schule gegen dje andere, ein Krieg, der jede völkerrechtliche Bestimmung aufhob, sondern die Anhänger derselben Schule wichen in den wichtigsten Lebensfragen himmelweit voneinander ab. Wenn die Kantianer noch eine ziemlich compacte Einheit bildeten, so ging in der hegelschen Schule die äußerste Rechte mit der leiden¬ schaftlichen Reaction Hand in Hand, die äußerste Linke g,ab sich zu Führern der Demagogie her. Da man sich aber nur eine kurze Zeit in den luftigen Räumen der Metaphysik bewegen kann, da die praktischen Fragen, die Fragen nach den Ideen Gott, Recht, Freiheit :c., das scholastische Spiel der bloßen Kategorien bald in den Hintergrund drängen, so ist die natürliche Folge ge¬ wesen, daß man in der endlichen Erschöpfung das ganze Lehrgebäude der Spe¬ kulation fallen ließ. Die wenigen Reste der alten Philosophenschulen erschei¬ nen uns wie Trümmer einer untergegangenen Welt, die nicht einmal ein ro¬ mantisches Interesse mehr erregen. Ganz anders bei den Franzosen. In der Analyse der Begriffe können wir von ihnen wenig oder nichts lernen. Der französische Eklekticismus hat keinen Satz ausgestellt, der nicht in einem von unsern Systemen schärfer for- mulirt wäre; aber die Gesinnung, welche in dieser Philosophie gelehrt wurde, die Stellung zu den wichtigsten Fragen der Menschheit, ist eine einheitliche gewesen und sie hat die Grundlage deS Glaubens, des Denkens und Empfin¬ dens für den ganzen gebildeten Theil der Nation ausgemacht. Man läßt sich zu sehr durch die Erscheinungen bestimmen, die man auf der Oberfläche wahrnimmt. Freilich haben die Franzosen wieder eine Reihe resultatloser Re¬ volutionen durchgemacht, die sie sich sehr bequem hätten ersparen können; aber der Inhalt des nationalen Bewußtseins, wie er sich in den gebildeten Schich¬ ten der Gesellschaft ausspricht, ist intact geblieben. Die Ausgabe der Philosophie zu Anfang dieses Jahrhunderts war eine doppelte. Es galt einmal, den Sensualismus der Aufklärung zu bekämpfen, jenes System, welches die Welt als einen leeren Mechanismus der Zweckbe- 31*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/251>, abgerufen am 12.12.2024.