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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Thatsachen, die Allgemeinheit, die Nothwendigkeit, die Präcision, die Anwend¬
barkeit für jeden bestimmten Fall :c. fehlt, würde bald ins Unglaubliche wachsen.
Freilich wäre es ebenso falsch, zu behaupten, daß alle Sätze der philosophischen
Evolution von 1781 bis 1842 in diese Kategorie fallen. Aber selbst dann
wäre der Schluß noch nicht gerechtfertigt, diese Evolution sür lnhalt- und zweck¬
los zu erklären. Die Philosophie hat neben ihrer wissenschaftlichen Aufgabe
noch eine andere, und nur wenn man diese ins Auge faßt, wird man sich von
jenem Irrthum eines sehr verständigen, aber sehr nüchternen Mannes frei hal¬
ten, der in der Geschichte der Philosophie von den Griechen bis auf unsere
Zeit nichts Anderes sah, als eine Geschichte der menschlichen Narrheit. -- In¬
dem Taine ausschließlich die wissenschaftliche Seite der Philosophie ins Auge
faßt, beurtheilt er seine Lehrer und Zeitgenossen, die Eklektiker des 19. Jahr¬
hunderts viel zu hart, die Philosophen des 18. Jahrhunderts viel zu günstig.
Freilich überschätzt er den Werth der letztern auch in wissenschaftlicher Beziehung;
aber selbst wenn Condillacs I^nAus Ah eirleuls wirklich ein so musterhaftes
Werk wäre, als er meint, so steht es doch nicht allein; es hängt mit einer
großen Reihe von Schriften organisch zusammen und dient ihnen als Stütze,
die nicht blos factisch einen außerordentlichen Einfluß auf die öffentlichen Zu¬
stände, auf das sittliche Leben, die Kunst :c. ausgeübt haben, sondern denselben
auch durch alle Mittel der Propaganda erstrebten. Wenn die LeuiAus Zs etrleuls
ein wissenschaftliches Buch ist, so kann man daS weder vom 8Mem<z 6s w
nature, noch von Helvetius, noch von der Encyklopädie behaupten. Es sind
die beredten Ausdrücke einer Gesinnung, die man theils nach ihrem innern
Werth, theils nach ihren Folgen zu beurtheilen hat. Einer solchen Kritik hat
sich die eklektische Schule unterzogen; und da es auf dem Gebiete der Ideen
keine bloßen Negationen gibt, da man durch die Verneinung eines fal¬
schen Satzes den entgegengesetzten bejaht, so hat sie wiederum zu einem
philosophischen Lehrgebäude geführt, welches nach denselben Grundsätzen zu
prüfen ist. Die Frage, welche von den beiden Schulen mehr wissenschaftlich
begründete Sätze aufgestellt hat, kann über den relativen Werth derselben
allein nicht entscheiden, noch viel weniger kann es die Frage nach der Klar¬
heit und" Bestimmtheit des Ausdrucks, welche der Verfasser an die Spitze seiner
Untersuchungen stellt. Es gibt eine Klarheit und Einfachheit, die darin besteht,
daß man die Hauptsachen ausläßt, und eS gibt eine Verworrenheit, der nur
die letzte Hand fehlt, um sich in eine tiefer greifende Wahrheit zu verwandeln.
Die Philosophie hat eine Seite, die der Poesie und Beredsamkeit entspricht,
eine Seite, die nicht der zeitlosen Wissenschaft, sondern der Geschichte angehört,
und diese muß mar> hervorheben, um den S'inn des Eklekticismus zu ver¬
stehen.

Die Entwicklung der neuern französischen Philosophie imponirt auf den ersten


Thatsachen, die Allgemeinheit, die Nothwendigkeit, die Präcision, die Anwend¬
barkeit für jeden bestimmten Fall :c. fehlt, würde bald ins Unglaubliche wachsen.
Freilich wäre es ebenso falsch, zu behaupten, daß alle Sätze der philosophischen
Evolution von 1781 bis 1842 in diese Kategorie fallen. Aber selbst dann
wäre der Schluß noch nicht gerechtfertigt, diese Evolution sür lnhalt- und zweck¬
los zu erklären. Die Philosophie hat neben ihrer wissenschaftlichen Aufgabe
noch eine andere, und nur wenn man diese ins Auge faßt, wird man sich von
jenem Irrthum eines sehr verständigen, aber sehr nüchternen Mannes frei hal¬
ten, der in der Geschichte der Philosophie von den Griechen bis auf unsere
Zeit nichts Anderes sah, als eine Geschichte der menschlichen Narrheit. — In¬
dem Taine ausschließlich die wissenschaftliche Seite der Philosophie ins Auge
faßt, beurtheilt er seine Lehrer und Zeitgenossen, die Eklektiker des 19. Jahr¬
hunderts viel zu hart, die Philosophen des 18. Jahrhunderts viel zu günstig.
Freilich überschätzt er den Werth der letztern auch in wissenschaftlicher Beziehung;
aber selbst wenn Condillacs I^nAus Ah eirleuls wirklich ein so musterhaftes
Werk wäre, als er meint, so steht es doch nicht allein; es hängt mit einer
großen Reihe von Schriften organisch zusammen und dient ihnen als Stütze,
die nicht blos factisch einen außerordentlichen Einfluß auf die öffentlichen Zu¬
stände, auf das sittliche Leben, die Kunst :c. ausgeübt haben, sondern denselben
auch durch alle Mittel der Propaganda erstrebten. Wenn die LeuiAus Zs etrleuls
ein wissenschaftliches Buch ist, so kann man daS weder vom 8Mem<z 6s w
nature, noch von Helvetius, noch von der Encyklopädie behaupten. Es sind
die beredten Ausdrücke einer Gesinnung, die man theils nach ihrem innern
Werth, theils nach ihren Folgen zu beurtheilen hat. Einer solchen Kritik hat
sich die eklektische Schule unterzogen; und da es auf dem Gebiete der Ideen
keine bloßen Negationen gibt, da man durch die Verneinung eines fal¬
schen Satzes den entgegengesetzten bejaht, so hat sie wiederum zu einem
philosophischen Lehrgebäude geführt, welches nach denselben Grundsätzen zu
prüfen ist. Die Frage, welche von den beiden Schulen mehr wissenschaftlich
begründete Sätze aufgestellt hat, kann über den relativen Werth derselben
allein nicht entscheiden, noch viel weniger kann es die Frage nach der Klar¬
heit und» Bestimmtheit des Ausdrucks, welche der Verfasser an die Spitze seiner
Untersuchungen stellt. Es gibt eine Klarheit und Einfachheit, die darin besteht,
daß man die Hauptsachen ausläßt, und eS gibt eine Verworrenheit, der nur
die letzte Hand fehlt, um sich in eine tiefer greifende Wahrheit zu verwandeln.
Die Philosophie hat eine Seite, die der Poesie und Beredsamkeit entspricht,
eine Seite, die nicht der zeitlosen Wissenschaft, sondern der Geschichte angehört,
und diese muß mar> hervorheben, um den S'inn des Eklekticismus zu ver¬
stehen.

Die Entwicklung der neuern französischen Philosophie imponirt auf den ersten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/250>, abgerufen am 22.07.2024.