Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

erreicht werden soll. Sicher ist es daher für Regelung dieser so vielseitig be¬
thätigten Theilnahme, welche sich, fast möchte man sagen instinctiv, auf
das vorliegende Gebiet geworfen hat, von Interesse, die Hauptrichtungen der¬
selben einer Prüfung zu unterwerfen, um den nöthigen Halt- und EinigungS-
punkt zu finden. Gelingt es hier nur, gewisse allgemeine Hauptgrundsätze
zur Geltung zu bringen, von wo ans man an die Sache gehen muß, und
die Betheiligten anzuregen, sich hierüber erst ein eignes Urtheil zu bilden,
ehe sie zu handeln beginnen, so ist schon viel gewonnen. Denn nirgend
machen sich hohle Worte und beliebte Tagesphrasen, die zum Theil die Stich¬
worte politischer Parteien geworden sind, so breit wie hier, und nirgend thut
es mehr Noth, diesem nichtigen Treiben durch Zurückführung'der verworre¬
nen Meinungen auf klare Begriffe und erfahrungsmäßig erprobte Thatsachen
entgegenzutreten.

Zunächst wird man uns wol einen weitläufigen Nachweis erlassen, daß
überhaupt Mißstände der- allgemeinsten, tiefgreifendsten Art in der Lage der
arbeitenden Bevölkerung bei uns vorhanden sind. Es ist an dem von
allen Seiten beigebrachten Material bereits genug und bedarf keiner neuen
Schilderungen von der Noth und Demoralisation, welche z. B. ni^ter den
Fabrikarbeitern an vielen Orten herrschen, von der immer steigenden Ver¬
kommenheit, unter der das Kleingewerbe, der sonst so blühende Hand¬
werkerstand, leidet. Nur die Grundursache und den Gang des Uebels
im Zillgemeinen sei uns vergönnt, einmal genauer in das Auge zu fassen,
weil grade hier, wie so häufig, viele geneigt sind, einzelne Symptome für die
Sache selbst zu nehmen.

Erst seit dem außerordentlichen Aufschwung der Industrie, insbesondere
der Fabriken in diesem Jahrhundert kennen wir bei uns das industrielle
Proletariat, mit dem wir es zu thun haben und welches mit der steigen¬
den Blüte und Vervollkommnung jener Etablissements gleichen Schritt hält.
Um dieselben häufen sich Massen mittelloser Arbeiter, welche, zu ganz speciellen
mechanischen Verrichtungen herangebildet, einzig in ihnen Beschäftigung finden.
Von dem bei dem größern Theile niedrig bemessenen Lohne, der ihre einzige
Eristenzquellc bildet und meist nur zur dringenden Lebensnothdurft hinreicht,
können sie nichts oder nur sehr wenig sparen. Sobald daher durch Unglücks¬
fälle, Krankheit, Alter ihre Arbeitsfähigkeit geschwächt oder vernichtet wird, sind
sie dem Elend Preis gegeben. Außer diesem Endziel ihrer Laufbahn, daS
ihnen stets vor Augen schwebt, bedroht aber auch noch jede Handelskrise,
jeder Unglücksfall deS Fabrikunternehmers, welche ihre gänzliche oder theil¬
weise Entlassung, sei eS für immer oder auf Zeit, und somit die Reduction
der Löhne, die Schließung des Etablissements nach sich ziehen, ihre Existenz.
Daß ein so unsicheres und kümmerliches Loos, bei schwerer Arbeit und harter


27"

erreicht werden soll. Sicher ist es daher für Regelung dieser so vielseitig be¬
thätigten Theilnahme, welche sich, fast möchte man sagen instinctiv, auf
das vorliegende Gebiet geworfen hat, von Interesse, die Hauptrichtungen der¬
selben einer Prüfung zu unterwerfen, um den nöthigen Halt- und EinigungS-
punkt zu finden. Gelingt es hier nur, gewisse allgemeine Hauptgrundsätze
zur Geltung zu bringen, von wo ans man an die Sache gehen muß, und
die Betheiligten anzuregen, sich hierüber erst ein eignes Urtheil zu bilden,
ehe sie zu handeln beginnen, so ist schon viel gewonnen. Denn nirgend
machen sich hohle Worte und beliebte Tagesphrasen, die zum Theil die Stich¬
worte politischer Parteien geworden sind, so breit wie hier, und nirgend thut
es mehr Noth, diesem nichtigen Treiben durch Zurückführung'der verworre¬
nen Meinungen auf klare Begriffe und erfahrungsmäßig erprobte Thatsachen
entgegenzutreten.

Zunächst wird man uns wol einen weitläufigen Nachweis erlassen, daß
überhaupt Mißstände der- allgemeinsten, tiefgreifendsten Art in der Lage der
arbeitenden Bevölkerung bei uns vorhanden sind. Es ist an dem von
allen Seiten beigebrachten Material bereits genug und bedarf keiner neuen
Schilderungen von der Noth und Demoralisation, welche z. B. ni^ter den
Fabrikarbeitern an vielen Orten herrschen, von der immer steigenden Ver¬
kommenheit, unter der das Kleingewerbe, der sonst so blühende Hand¬
werkerstand, leidet. Nur die Grundursache und den Gang des Uebels
im Zillgemeinen sei uns vergönnt, einmal genauer in das Auge zu fassen,
weil grade hier, wie so häufig, viele geneigt sind, einzelne Symptome für die
Sache selbst zu nehmen.

Erst seit dem außerordentlichen Aufschwung der Industrie, insbesondere
der Fabriken in diesem Jahrhundert kennen wir bei uns das industrielle
Proletariat, mit dem wir es zu thun haben und welches mit der steigen¬
den Blüte und Vervollkommnung jener Etablissements gleichen Schritt hält.
Um dieselben häufen sich Massen mittelloser Arbeiter, welche, zu ganz speciellen
mechanischen Verrichtungen herangebildet, einzig in ihnen Beschäftigung finden.
Von dem bei dem größern Theile niedrig bemessenen Lohne, der ihre einzige
Eristenzquellc bildet und meist nur zur dringenden Lebensnothdurft hinreicht,
können sie nichts oder nur sehr wenig sparen. Sobald daher durch Unglücks¬
fälle, Krankheit, Alter ihre Arbeitsfähigkeit geschwächt oder vernichtet wird, sind
sie dem Elend Preis gegeben. Außer diesem Endziel ihrer Laufbahn, daS
ihnen stets vor Augen schwebt, bedroht aber auch noch jede Handelskrise,
jeder Unglücksfall deS Fabrikunternehmers, welche ihre gänzliche oder theil¬
weise Entlassung, sei eS für immer oder auf Zeit, und somit die Reduction
der Löhne, die Schließung des Etablissements nach sich ziehen, ihre Existenz.
Daß ein so unsicheres und kümmerliches Loos, bei schwerer Arbeit und harter


27"
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0219" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104420"/>
            <p xml:id="ID_593" prev="#ID_592"> erreicht werden soll. Sicher ist es daher für Regelung dieser so vielseitig be¬<lb/>
thätigten Theilnahme, welche sich, fast möchte man sagen instinctiv, auf<lb/>
das vorliegende Gebiet geworfen hat, von Interesse, die Hauptrichtungen der¬<lb/>
selben einer Prüfung zu unterwerfen, um den nöthigen Halt- und EinigungS-<lb/>
punkt zu finden. Gelingt es hier nur, gewisse allgemeine Hauptgrundsätze<lb/>
zur Geltung zu bringen, von wo ans man an die Sache gehen muß, und<lb/>
die Betheiligten anzuregen, sich hierüber erst ein eignes Urtheil zu bilden,<lb/>
ehe sie zu handeln beginnen, so ist schon viel gewonnen. Denn nirgend<lb/>
machen sich hohle Worte und beliebte Tagesphrasen, die zum Theil die Stich¬<lb/>
worte politischer Parteien geworden sind, so breit wie hier, und nirgend thut<lb/>
es mehr Noth, diesem nichtigen Treiben durch Zurückführung'der verworre¬<lb/>
nen Meinungen auf klare Begriffe und erfahrungsmäßig erprobte Thatsachen<lb/>
entgegenzutreten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_594"> Zunächst wird man uns wol einen weitläufigen Nachweis erlassen, daß<lb/>
überhaupt Mißstände der- allgemeinsten, tiefgreifendsten Art in der Lage der<lb/>
arbeitenden Bevölkerung bei uns vorhanden sind. Es ist an dem von<lb/>
allen Seiten beigebrachten Material bereits genug und bedarf keiner neuen<lb/>
Schilderungen von der Noth und Demoralisation, welche z. B. ni^ter den<lb/>
Fabrikarbeitern an vielen Orten herrschen, von der immer steigenden Ver¬<lb/>
kommenheit, unter der das Kleingewerbe, der sonst so blühende Hand¬<lb/>
werkerstand, leidet. Nur die Grundursache und den Gang des Uebels<lb/>
im Zillgemeinen sei uns vergönnt, einmal genauer in das Auge zu fassen,<lb/>
weil grade hier, wie so häufig, viele geneigt sind, einzelne Symptome für die<lb/>
Sache selbst zu nehmen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_595" next="#ID_596"> Erst seit dem außerordentlichen Aufschwung der Industrie, insbesondere<lb/>
der Fabriken in diesem Jahrhundert kennen wir bei uns das industrielle<lb/>
Proletariat, mit dem wir es zu thun haben und welches mit der steigen¬<lb/>
den Blüte und Vervollkommnung jener Etablissements gleichen Schritt hält.<lb/>
Um dieselben häufen sich Massen mittelloser Arbeiter, welche, zu ganz speciellen<lb/>
mechanischen Verrichtungen herangebildet, einzig in ihnen Beschäftigung finden.<lb/>
Von dem bei dem größern Theile niedrig bemessenen Lohne, der ihre einzige<lb/>
Eristenzquellc bildet und meist nur zur dringenden Lebensnothdurft hinreicht,<lb/>
können sie nichts oder nur sehr wenig sparen. Sobald daher durch Unglücks¬<lb/>
fälle, Krankheit, Alter ihre Arbeitsfähigkeit geschwächt oder vernichtet wird, sind<lb/>
sie dem Elend Preis gegeben. Außer diesem Endziel ihrer Laufbahn, daS<lb/>
ihnen stets vor Augen schwebt, bedroht aber auch noch jede Handelskrise,<lb/>
jeder Unglücksfall deS Fabrikunternehmers, welche ihre gänzliche oder theil¬<lb/>
weise Entlassung, sei eS für immer oder auf Zeit, und somit die Reduction<lb/>
der Löhne, die Schließung des Etablissements nach sich ziehen, ihre Existenz.<lb/>
Daß ein so unsicheres und kümmerliches Loos, bei schwerer Arbeit und harter</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 27"</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0219] erreicht werden soll. Sicher ist es daher für Regelung dieser so vielseitig be¬ thätigten Theilnahme, welche sich, fast möchte man sagen instinctiv, auf das vorliegende Gebiet geworfen hat, von Interesse, die Hauptrichtungen der¬ selben einer Prüfung zu unterwerfen, um den nöthigen Halt- und EinigungS- punkt zu finden. Gelingt es hier nur, gewisse allgemeine Hauptgrundsätze zur Geltung zu bringen, von wo ans man an die Sache gehen muß, und die Betheiligten anzuregen, sich hierüber erst ein eignes Urtheil zu bilden, ehe sie zu handeln beginnen, so ist schon viel gewonnen. Denn nirgend machen sich hohle Worte und beliebte Tagesphrasen, die zum Theil die Stich¬ worte politischer Parteien geworden sind, so breit wie hier, und nirgend thut es mehr Noth, diesem nichtigen Treiben durch Zurückführung'der verworre¬ nen Meinungen auf klare Begriffe und erfahrungsmäßig erprobte Thatsachen entgegenzutreten. Zunächst wird man uns wol einen weitläufigen Nachweis erlassen, daß überhaupt Mißstände der- allgemeinsten, tiefgreifendsten Art in der Lage der arbeitenden Bevölkerung bei uns vorhanden sind. Es ist an dem von allen Seiten beigebrachten Material bereits genug und bedarf keiner neuen Schilderungen von der Noth und Demoralisation, welche z. B. ni^ter den Fabrikarbeitern an vielen Orten herrschen, von der immer steigenden Ver¬ kommenheit, unter der das Kleingewerbe, der sonst so blühende Hand¬ werkerstand, leidet. Nur die Grundursache und den Gang des Uebels im Zillgemeinen sei uns vergönnt, einmal genauer in das Auge zu fassen, weil grade hier, wie so häufig, viele geneigt sind, einzelne Symptome für die Sache selbst zu nehmen. Erst seit dem außerordentlichen Aufschwung der Industrie, insbesondere der Fabriken in diesem Jahrhundert kennen wir bei uns das industrielle Proletariat, mit dem wir es zu thun haben und welches mit der steigen¬ den Blüte und Vervollkommnung jener Etablissements gleichen Schritt hält. Um dieselben häufen sich Massen mittelloser Arbeiter, welche, zu ganz speciellen mechanischen Verrichtungen herangebildet, einzig in ihnen Beschäftigung finden. Von dem bei dem größern Theile niedrig bemessenen Lohne, der ihre einzige Eristenzquellc bildet und meist nur zur dringenden Lebensnothdurft hinreicht, können sie nichts oder nur sehr wenig sparen. Sobald daher durch Unglücks¬ fälle, Krankheit, Alter ihre Arbeitsfähigkeit geschwächt oder vernichtet wird, sind sie dem Elend Preis gegeben. Außer diesem Endziel ihrer Laufbahn, daS ihnen stets vor Augen schwebt, bedroht aber auch noch jede Handelskrise, jeder Unglücksfall deS Fabrikunternehmers, welche ihre gänzliche oder theil¬ weise Entlassung, sei eS für immer oder auf Zeit, und somit die Reduction der Löhne, die Schließung des Etablissements nach sich ziehen, ihre Existenz. Daß ein so unsicheres und kümmerliches Loos, bei schwerer Arbeit und harter 27"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/219
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/219>, abgerufen am 22.07.2024.