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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Pflicht der sittlichen Kritik wieder ein und man darf nicht verschweigen, daß
der Dichter in dieser Beziehung nicht selten einen argen Anstoß gegeben hat.

Mit diesen Scenen, die er am liebsten schildert, hängt die Vorliebe für
die unregelmäßigen Classen der Gesellschaft zusammen, für die Zigeuner, Seil¬
tänzer, herumziehende Musikanten, Bettler und Vagabonden. Er schildert
ihre Lage sehr beneidenswert!);*) eigentlich aber meint er das Zigeunerleben
der Studenten, die ja auch in Deutschland: "Ein freies Leben führen wir"
singen, ohne dabei an die böhmischen Wälder zu denken. Diese Vorliebe für
die Vagabonden hat ihm zu einzelnen schönen Gedichten Gelegenheit gegeben,
wo die Chanson in die Romanze übergeht, und aus dem lustigen Gesellschafts¬
kreise sich ein ernster Ton herausarbeitet. Diese Genrebilder sind Bvrangers
eigne Erfindung und eine echte bleibende Bereicherung der Poesie, die auch
wir Deutsche ausgebeutet haben, wenn auch bereits durch Uhland ein ver¬
wandter Ton angeschlagen war.

Wenn der Voltairianismus des Inhalts mit dem Wesen der Kunstform
zusammenhängt, so ergibt sich unmittelbar daraus die Neigung, die Pharisäer
zu verspotten, welche diesen Voltairianismus nicht gelten lassen.

Man hat von Bvrangers politischer Mission so viel gesprochen, daß er
endlich selbst daran glaubte, indeß läßt sich sein politisches Glaubensbekenntniß so
ziemlich auf den Satz zurückführen, daß die Heiligen, welche über die armen
Grisetten und Zigeuner den Bannfluch aussprechen, im Stillen auch keine
Kostverächter sind, und daß sie in ihren Klöstern Sabbate feiern, für welche
die Gaudriole keine Entweihung sein würde. Diese Heiligen wurden von der
Restauration begünstigt und predigten das Christenthum; eS ist also natürlich,
daß der liebenswürdige Dichter die Dynastie und die Kirche entgelten läßt,
was ihre Vertheidiger gesündigt haben, um so mehr, da die Chanson ihrer
Abstammung nach der Fronde angehört und ihren Muthwillen am liebsten
an den Mächtigen der Erde ausläßt.

Diese Lieder gegen die Schwarzröcke und gar gegen die einfältigen Könige,
welche sich von ihnen am Gängelbande führen ließen, wirkten um so mehr auf
die Menge ein, da sie der echte Ausdruck deS französischen Geistes waren. Es
war der Hauptfehler der Restauration, mit diesen Priestern Gemeinschaft zu
machen, die der angebornen Neigung des Volkes widerstrebten. Wenn Bvranger
daS Christenthum nur in diesen Pharisäern sucht und ihnen die Religion Epikurs
entgegenstellt, so kann man sich das so lange gefallen lassen, als es komisch ist.
Niemand wird z. V. an der Schilderung des lieben Gottes Anstoß nehmen, der ,
in seiner Schlafmütze zum Fenster heraussteht, sich darüber verwundert, waS
die Leute von ihm erzählen, auf eine gotteslästerliche Weise flucht und endlich



Z. B. I^LS guonxl les gueux sont 6es lisnienxl II L'aiivsut vntrs KUX II-s. w.
wo doch aller Menschenverstand aufhört.
Greuzbote". III. 18S7. 2i

Pflicht der sittlichen Kritik wieder ein und man darf nicht verschweigen, daß
der Dichter in dieser Beziehung nicht selten einen argen Anstoß gegeben hat.

Mit diesen Scenen, die er am liebsten schildert, hängt die Vorliebe für
die unregelmäßigen Classen der Gesellschaft zusammen, für die Zigeuner, Seil¬
tänzer, herumziehende Musikanten, Bettler und Vagabonden. Er schildert
ihre Lage sehr beneidenswert!);*) eigentlich aber meint er das Zigeunerleben
der Studenten, die ja auch in Deutschland: „Ein freies Leben führen wir"
singen, ohne dabei an die böhmischen Wälder zu denken. Diese Vorliebe für
die Vagabonden hat ihm zu einzelnen schönen Gedichten Gelegenheit gegeben,
wo die Chanson in die Romanze übergeht, und aus dem lustigen Gesellschafts¬
kreise sich ein ernster Ton herausarbeitet. Diese Genrebilder sind Bvrangers
eigne Erfindung und eine echte bleibende Bereicherung der Poesie, die auch
wir Deutsche ausgebeutet haben, wenn auch bereits durch Uhland ein ver¬
wandter Ton angeschlagen war.

Wenn der Voltairianismus des Inhalts mit dem Wesen der Kunstform
zusammenhängt, so ergibt sich unmittelbar daraus die Neigung, die Pharisäer
zu verspotten, welche diesen Voltairianismus nicht gelten lassen.

Man hat von Bvrangers politischer Mission so viel gesprochen, daß er
endlich selbst daran glaubte, indeß läßt sich sein politisches Glaubensbekenntniß so
ziemlich auf den Satz zurückführen, daß die Heiligen, welche über die armen
Grisetten und Zigeuner den Bannfluch aussprechen, im Stillen auch keine
Kostverächter sind, und daß sie in ihren Klöstern Sabbate feiern, für welche
die Gaudriole keine Entweihung sein würde. Diese Heiligen wurden von der
Restauration begünstigt und predigten das Christenthum; eS ist also natürlich,
daß der liebenswürdige Dichter die Dynastie und die Kirche entgelten läßt,
was ihre Vertheidiger gesündigt haben, um so mehr, da die Chanson ihrer
Abstammung nach der Fronde angehört und ihren Muthwillen am liebsten
an den Mächtigen der Erde ausläßt.

Diese Lieder gegen die Schwarzröcke und gar gegen die einfältigen Könige,
welche sich von ihnen am Gängelbande führen ließen, wirkten um so mehr auf
die Menge ein, da sie der echte Ausdruck deS französischen Geistes waren. Es
war der Hauptfehler der Restauration, mit diesen Priestern Gemeinschaft zu
machen, die der angebornen Neigung des Volkes widerstrebten. Wenn Bvranger
daS Christenthum nur in diesen Pharisäern sucht und ihnen die Religion Epikurs
entgegenstellt, so kann man sich das so lange gefallen lassen, als es komisch ist.
Niemand wird z. V. an der Schilderung des lieben Gottes Anstoß nehmen, der ,
in seiner Schlafmütze zum Fenster heraussteht, sich darüber verwundert, waS
die Leute von ihm erzählen, auf eine gotteslästerliche Weise flucht und endlich



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wo doch aller Menschenverstand aufhört.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/193>, abgerufen am 12.12.2024.