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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band.

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Zeit, die das so klar bewies, als die jetzige. Als der jetzige Kaiser der Fran¬
zosen am 2. Decbr. 1831 seinen Staatsstreich vollbrachte, da waren die Blätter
der "Nuhe und Ordnung", da war alles, was vom Hasse gegen die Rich¬
tungen unserer Zeit lebte, mag man sie als liberale oder als demokratische be¬
zeichnen, voll des außerordentlichsten Lobes über diesen Schlußstein in der
Rettung der europäischen Gesellschaft. Es sollte sich aber grade darin die
Schwäche einer Politik zeigen, welche über beliebigen Tendenzen die Interessen
übersieht. Der französische Staatsstreich hat die Kraft der Reaction nicht ge¬
mehrt, sondern erschöpft. Derjenigen Kurzsichtigkeit, welche alles nach augen¬
blicklichen Erfolgen abmißt und welche nicht voll genug des Lobes sein kann, wie gut
Louis Napoleon für die Franzosen passe, die er so prächtig zu nehmen wisse,
oder der Verdrossenheit, welche meint es müsse alles zum Schlechtesten in dieser bösen
Welt gehen und nun auf die Dauer der heutigen Zustände schwört, möchten wir die
einfache Frage vorlegen, ob sie ehrlich und aufrichtig an den Bestand des
jetzigen imperialistischen Regimes glauben? Sie werden vielleicht zehn Jahre,
zwanzig Jahre, ein ganzes Menschenalter zugeben oder annehmen; sie werden
möglicher- und wahrscheinlicherweise achselzuckend erwidern, sie könnten auch
nicht den morgenden Tag garantiren. Hierin nun, in dieser Ungewißheit
auch nur über die nächste Zukunft, die sich nicht auf einzelne Kreise beschränkt,
sondern durch alle Schichten der Gesellschaft hindurchgeht, liegt der Schlüssel
für so manche räthselhafte Zeiterscheinung, zu deren Erklärung man schon die
allerverschiedensten Ursachen aufgeboten hat. Wir sprechen hier nicht von diplo¬
matischen Begebenheiten. Die Diplomatie huldigt nur der Macht, die da
ist, unter dem Vorbehalt, sie mit Füßen zu treten, sobald sie umgeworfen;
wir reden vielmehr nur von volkswirthschaftlichen Einflüssen, und man möge
uns zu diesem Zweck erlauben, etwas weiter über den Zusammenhang und
das organische Leben dessen auszuholen, was man heutzutage Gesellschaft
nennt.

Der einzelne Mensch wie die Gesellschaft verfolgen in ihrem Leben zwei
Richtungen nebeneinander, die eine auf die Gegenwart, die andere auf die
Zukunft gerichtet, die erste zunächst, weil ohne sie keine Zukunft denkbar ist.
Man kann nun nicht sagen, daß naturgemäß bei dem einzelnen Menschen
oder bei der Gesellschaft die eine oder die andere Richtung prädominirt und
darf dies auch nicht sein. Wer nur der Gegenwart lebt, den wird das geringste
Ungefähr um die Zukunft bringen können. Es ist dies grade der Charakterzug
aller in der Cultur zurückgebliebenen Völkerschaften, in dieser Weise zu handeln
und sich vom Ungefähr überraschen zu lassen. Wer ausschließlich an die Zu¬
kunft denkt, so weit das überhaupt möglich ist, der wird auch meistentheils in
der Gegenwart nichts Brauchbares verrichten und der Zukunft dennoch leicht
verlustig gehen können. Es gehört eben schon ein tieferes Bewußtsein und


Zeit, die das so klar bewies, als die jetzige. Als der jetzige Kaiser der Fran¬
zosen am 2. Decbr. 1831 seinen Staatsstreich vollbrachte, da waren die Blätter
der „Nuhe und Ordnung", da war alles, was vom Hasse gegen die Rich¬
tungen unserer Zeit lebte, mag man sie als liberale oder als demokratische be¬
zeichnen, voll des außerordentlichsten Lobes über diesen Schlußstein in der
Rettung der europäischen Gesellschaft. Es sollte sich aber grade darin die
Schwäche einer Politik zeigen, welche über beliebigen Tendenzen die Interessen
übersieht. Der französische Staatsstreich hat die Kraft der Reaction nicht ge¬
mehrt, sondern erschöpft. Derjenigen Kurzsichtigkeit, welche alles nach augen¬
blicklichen Erfolgen abmißt und welche nicht voll genug des Lobes sein kann, wie gut
Louis Napoleon für die Franzosen passe, die er so prächtig zu nehmen wisse,
oder der Verdrossenheit, welche meint es müsse alles zum Schlechtesten in dieser bösen
Welt gehen und nun auf die Dauer der heutigen Zustände schwört, möchten wir die
einfache Frage vorlegen, ob sie ehrlich und aufrichtig an den Bestand des
jetzigen imperialistischen Regimes glauben? Sie werden vielleicht zehn Jahre,
zwanzig Jahre, ein ganzes Menschenalter zugeben oder annehmen; sie werden
möglicher- und wahrscheinlicherweise achselzuckend erwidern, sie könnten auch
nicht den morgenden Tag garantiren. Hierin nun, in dieser Ungewißheit
auch nur über die nächste Zukunft, die sich nicht auf einzelne Kreise beschränkt,
sondern durch alle Schichten der Gesellschaft hindurchgeht, liegt der Schlüssel
für so manche räthselhafte Zeiterscheinung, zu deren Erklärung man schon die
allerverschiedensten Ursachen aufgeboten hat. Wir sprechen hier nicht von diplo¬
matischen Begebenheiten. Die Diplomatie huldigt nur der Macht, die da
ist, unter dem Vorbehalt, sie mit Füßen zu treten, sobald sie umgeworfen;
wir reden vielmehr nur von volkswirthschaftlichen Einflüssen, und man möge
uns zu diesem Zweck erlauben, etwas weiter über den Zusammenhang und
das organische Leben dessen auszuholen, was man heutzutage Gesellschaft
nennt.

Der einzelne Mensch wie die Gesellschaft verfolgen in ihrem Leben zwei
Richtungen nebeneinander, die eine auf die Gegenwart, die andere auf die
Zukunft gerichtet, die erste zunächst, weil ohne sie keine Zukunft denkbar ist.
Man kann nun nicht sagen, daß naturgemäß bei dem einzelnen Menschen
oder bei der Gesellschaft die eine oder die andere Richtung prädominirt und
darf dies auch nicht sein. Wer nur der Gegenwart lebt, den wird das geringste
Ungefähr um die Zukunft bringen können. Es ist dies grade der Charakterzug
aller in der Cultur zurückgebliebenen Völkerschaften, in dieser Weise zu handeln
und sich vom Ungefähr überraschen zu lassen. Wer ausschließlich an die Zu¬
kunft denkt, so weit das überhaupt möglich ist, der wird auch meistentheils in
der Gegenwart nichts Brauchbares verrichten und der Zukunft dennoch leicht
verlustig gehen können. Es gehört eben schon ein tieferes Bewußtsein und


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[0133] Zeit, die das so klar bewies, als die jetzige. Als der jetzige Kaiser der Fran¬ zosen am 2. Decbr. 1831 seinen Staatsstreich vollbrachte, da waren die Blätter der „Nuhe und Ordnung", da war alles, was vom Hasse gegen die Rich¬ tungen unserer Zeit lebte, mag man sie als liberale oder als demokratische be¬ zeichnen, voll des außerordentlichsten Lobes über diesen Schlußstein in der Rettung der europäischen Gesellschaft. Es sollte sich aber grade darin die Schwäche einer Politik zeigen, welche über beliebigen Tendenzen die Interessen übersieht. Der französische Staatsstreich hat die Kraft der Reaction nicht ge¬ mehrt, sondern erschöpft. Derjenigen Kurzsichtigkeit, welche alles nach augen¬ blicklichen Erfolgen abmißt und welche nicht voll genug des Lobes sein kann, wie gut Louis Napoleon für die Franzosen passe, die er so prächtig zu nehmen wisse, oder der Verdrossenheit, welche meint es müsse alles zum Schlechtesten in dieser bösen Welt gehen und nun auf die Dauer der heutigen Zustände schwört, möchten wir die einfache Frage vorlegen, ob sie ehrlich und aufrichtig an den Bestand des jetzigen imperialistischen Regimes glauben? Sie werden vielleicht zehn Jahre, zwanzig Jahre, ein ganzes Menschenalter zugeben oder annehmen; sie werden möglicher- und wahrscheinlicherweise achselzuckend erwidern, sie könnten auch nicht den morgenden Tag garantiren. Hierin nun, in dieser Ungewißheit auch nur über die nächste Zukunft, die sich nicht auf einzelne Kreise beschränkt, sondern durch alle Schichten der Gesellschaft hindurchgeht, liegt der Schlüssel für so manche räthselhafte Zeiterscheinung, zu deren Erklärung man schon die allerverschiedensten Ursachen aufgeboten hat. Wir sprechen hier nicht von diplo¬ matischen Begebenheiten. Die Diplomatie huldigt nur der Macht, die da ist, unter dem Vorbehalt, sie mit Füßen zu treten, sobald sie umgeworfen; wir reden vielmehr nur von volkswirthschaftlichen Einflüssen, und man möge uns zu diesem Zweck erlauben, etwas weiter über den Zusammenhang und das organische Leben dessen auszuholen, was man heutzutage Gesellschaft nennt. Der einzelne Mensch wie die Gesellschaft verfolgen in ihrem Leben zwei Richtungen nebeneinander, die eine auf die Gegenwart, die andere auf die Zukunft gerichtet, die erste zunächst, weil ohne sie keine Zukunft denkbar ist. Man kann nun nicht sagen, daß naturgemäß bei dem einzelnen Menschen oder bei der Gesellschaft die eine oder die andere Richtung prädominirt und darf dies auch nicht sein. Wer nur der Gegenwart lebt, den wird das geringste Ungefähr um die Zukunft bringen können. Es ist dies grade der Charakterzug aller in der Cultur zurückgebliebenen Völkerschaften, in dieser Weise zu handeln und sich vom Ungefähr überraschen zu lassen. Wer ausschließlich an die Zu¬ kunft denkt, so weit das überhaupt möglich ist, der wird auch meistentheils in der Gegenwart nichts Brauchbares verrichten und der Zukunft dennoch leicht verlustig gehen können. Es gehört eben schon ein tieferes Bewußtsein und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104200/133>, abgerufen am 12.12.2024.